Interview mit Düsseldorfer Kinderarzt „Mit den Corona-Kollateralschäden muss jetzt Schluss sein“

Düsseldorf · Längst überfällig ist die Wiederöffnung der Schulen und nun auch der Kitas in den Augen von Kinderarzt Dr. Hermann Josef Kahl (65). In seiner Praxis erlebt er, wie sehr die Situation die Kinder belastet.

 Hermann Josef Kahl, Kinderarzt und Mitglied des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.

Hermann Josef Kahl, Kinderarzt und Mitglied des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.

Foto: Ines Arnold

Herr Dr. Kahl, wie hat sich Ihr Praxisalltag in den vergangenen Wochen durch Corona verändert?

Dr. Hermann Josef Kahl: Wir wurden eindeutig seltener nachgefragt als sonst. 40 Prozent weniger Patienten sind gekommen. Viele Eltern haben Angst, wegen Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen jetzt in die Praxis zu kommen. Aber das ist gar nicht gut und nicht nötig. Eltern sollten auch jetzt wichtige Untersuchungen wahrnehmen, weil wir in der Praxis Vorkehrungen treffen, um das Infektionsrisiko zu minimieren: Die akut kranken Kinder werden von den anderen Kindern getrennt, zeitlich und räumlich. Zurzeit sind, dadurch, dass die sozialen Kontakte reduziert sind und die Kinder und Jugendlichen hauptsächlich zu Hause sind, ohnehin weniger Infektionen unterwegs. Die Wahrscheinlichkeit, sich im Wartezimmer irgendetwas einzufangen, ist also sehr gering.

Wie viele Eltern kamen denn mit der Sorge, ihr Kind könnte sich mit Covid-19 angesteckt haben?

Dr. Kahl: Wenige kamen mit der konkreten Frage, ob sich das Kind angesteckt hat. Wenige haben wir zum Abstreichen ans Gesundheitsamt weitergeleitet, wenige Abstriche haben wir selbst gemacht, ein Kind in die Klinik geschickt. Keiner der Fälle war positiv.

Waren auch Kinder in Ihrer Praxis, bei denen Sie feststellen konnten, dass Beschwerden nicht körperliche Ursachen haben, sondern vielmehr die Psyche eine entscheidende Rolle spielt?

Dr. Kahl: Ja, wir hatten Kinder in der Praxis, bei denen wir differenzialdiagnostisch daran denken mussten, dass Beschwerden auch durch die derzeitige Situation verstärkt werden.

Können Sie uns ein Beispiel nennen?

Dr. Kahl: Ein Kind kam mit leichtem Bluthochdruck in die Praxis, das selbst zur Mutter gesagt hatte, dass es sich stark unter Druck gesetzt fühlt. Wir gehen davon aus, dass der derzeitige Stress für den Bluthochdruck eine entscheidende Rolle spielt.

Wodurch kommt der Stress zustande?

Dr. Kahl: Kinder und Jugendliche vermissen ihr soziales Umfeld – Freunde, Sport, die gewohnte Freizeitgestaltung. Wenn dann die Situation der plötzlich zu Hause arbeitenden Eltern zusätzlich neue Regeln im Umgang miteinander fordert, kann das zu enormen Spannungen führen. Diesem Druck halten manche Kinder emotional nicht stand. Man muss sich auch immer vor Augen führen, dass Kinder und Jugendliche aus prekären Verhältnissen nicht oder nicht so häufig zu uns in die Praxis kommen. Von ihnen erfahren wir nicht, wie es ihnen geht. Wir Ärzte haben große Sorge, dass Vernachlässigungen zunehmen, es im schlimmsten Fall zu Misshandlungen kommen kann, die psychischen Folgen dramatisch sind. Aber auch für Kinder, die in geordneten Verhältnissen leben, kann die aktuelle Situation sehr belastend sein.

Wann sollten Eltern denn hellhörig werden? Wie verhalten sich Kinder, die psychisch belastet sind?

Dr. Kahl: Da gibt es eine ganze Reihe psychosomatischer Beschwerden: Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlaflosigkeit. Wenn Kinder plötzlich Dinge tun, die sie früher nicht gemacht haben, sollten Eltern aufmerksam werden. Wenn sie plötzlich niedergeschlagen, antriebslos oder aggressiv sind. In vielen Haushalten zeigen Kinder und Jugendliche gerade solche emotionalen Extreme, bei einigen kann man mit Sicherheit auch von einer angehenden Depression sprechen. Und da zeigt sich: Mit diesen Corona-Kollateralschäden muss jetzt Schluss sein.

Der Öffnung der Kitas sehen Sie demnach positiv entgegen?

Dr. Kahl: Ja. Wir Ärzte haben die Öffnung ja absolut befürwortet. Wir wissen aus Studien, dass Kinder unter zehn Jahren sich nur halb so oft anstecken wie die Kinder über zehn oder Erwachsene. Und weiter wissen wir von den Kindern, die positiv auf Covid-19 getestet wurden, dass nur wenige, absolute Ausnahmen, in der Klinik behandelt werden mussten. Bei den anderen sind die Krankheitsverläufe mild, eine Schonung zu Hause reicht. Der Oberarzt der Düsseldorfer Uniklink hat schon vor vier Wochen gesagt, dass die Kinderkliniken leer sind und nicht mit einem Anstieg gerechnet wird. Das hat sich bewahrheitet. Bisher gab es in Deutschland nur ein totes Kind in Zusammenhang mit Covid-19, aber da war auch eine Vorerkrankung bekannt. Und hier in Düsseldorf gab es in der vergangenen Woche ein Kind mit Covid-19, das klinisch behandelt werden musste, aber auch da war eine Immunschwäche bekannt. Das Kind ist heute schon wieder genesen. Unterm Strich bedeutet das alles für die Öffnung der Kitas: Wenn die Kinder dort Kontakt mit dem Virus haben und – meist symptomlos - Antikörper bilden, dann sind wir auf dem Weg zum Herdenschutz ein ganzes Stück nach vorne gekommen.

Kinder untereinander sind also kein Risiko. Aber was ist mit den Erwachsenen, den Erziehern? Es wird ja immer gesagt, dass Abstandsregeln in Kitas kaum eingehalten werden können.

Dr. Kahl: Klar: Kinder können ihre Infektionen an Erwachsene weitergeben. Da müssen auch in Kitas Hygienemaßnahmen durchgeführt werden, um das Risiko zu minimieren. Ein Restrisiko bleibt auch dort, das steht fest. Aber man kann eine Menschheit nicht in Glashäuser stecken. Die beschriebenen Kollateralschäden abzudämmen wiegt da mehr als das Restrisiko, dass ein Kind eine Erzieherin anstecken könnte.

Hätten auch die Spielplätze früher öffnen sollen?

Dr. Kahl: Meine persönliche Meinung: Ja. Aber man muss auch fairerweise sagen, dass wir Ärzte auf bestimmte Informationen angewiesen waren, um so eine Öffnung zu fordern. Informationen, die belegen, dass wenige Kinder erkranken, weniger heftig erkranken. Nachdem wir das alles nun wissen und auch wissen, welche psychischen Schäden die Kinder durch die lange Isolation genommen haben, ist es jetzt allerhöchste Zeit, etwas zu ändern.

Wenn die Kinder nun in Schulen und Kitas zurückkehren, sind die Probleme dann verschwunden oder rechnen Sie mit Anpassungsschwierigkeiten?

Dr. Kahl: Lehrer und Eltern sollten sich darauf einstellen, dass das nicht von heute auf morgen verschwindet und dass gerade in dieser Zeit der Rückkehr und Wiederanpassung eine besondere Begleitung des Kindes nötig ist. Die Kinder dürfen jetzt nicht allein dadurch gehen. Sie brauchen eine besondere Ansprache, sie müssen ernst genommen und positiv bestärkt werden. Und dafür müssen sich Eltern nun auch nochmals Zeit nehmen. Viele Kinder haben stärkere Ängste entwickelt, jüngere wissen nicht mehr auf andere Kinder zuzugehen, die etwas älteren haben Angst, sich anzustecken. Und projizieren diese Angst auch auf andere Dinge, werden insgesamt unsicher. Mit der Zeit wird sich aber auch das normalisieren.

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