Projekt Underdog Letzter Halt: Hund

Düsseldorf · Das Team von Underdog behandelt die Hunde von Wohnungslosen – Tiere, die zum Lebensbegleiter werden. Eine Geschichte über Freundschaft bis zum Tod.

 Viel los vor dem Underdog-Bus: Die Menschen warten auf die Behandlung ihres Hundes

Viel los vor dem Underdog-Bus: Die Menschen warten auf die Behandlung ihres Hundes

Foto: Tom Oswald

836 Tage nach dem Herzstillstand seines besten Freundes Buddy kauert Hans-Jürgen mit zerrissenen Jeans auf der Steintreppe am Rheinufer in der Düsseldorfer Altstadt und sieht zum blaugrauen Himmel hinauf: „Buddy war mein Bruder. Weißt du wie der mir fehlt, Mann?“ Seine Stirn schlägt Falten, die Augen sind eng zusammengekniffen. Ganz leicht öffnet er den Mund und lächelt. Dabei fließt eine Träne über seine Wange.

Zehn Meter entfernt steht ein weißer Kleintransporter. Das Wort „Underdog“ steht darauf. Und darunter: „Erste Hilfe für den besten Freund der Obdachlosen“. „Die Jungs und Mädels machen dort drüben einen wirklich guten Job. Geben dir Medizin für’n Hund, auch wenn du selbst Nichts hast.“ Hans-Jürgens knochiger Finger deutet auf den weißen Kleintransporter. „Ich bin seit der ersten Stunde dabei.“ Seine Augen rollt er dabei zur Seite. „Damals noch mit meinem Buddy.“

Damals war Hans-Jürgen oft im Stall bei seinem damaligen Pferd. „Eines Tages da bürstete ich die Große. Auf einmal kam Buddys Mutti in den Stall. Eine gepflegte Hündin. ,Na, wer bist du denn?’, habe ich gefragt. So eine hübsche alte Dame.“ Er schaute in ihre dunklen Augen, plötzlich ertönte eine tiefe Stimme im Hintergrund: „So hat sie bis jetzt noch keiner genannt. Und das als Schwangere. Beim Wurf bist du der erste, der einen Welpen bekommt.“ Hinter der Hündin stand der Hufschmid, er war ihr Begleiter. Ein paar Wochen vergingen, dann kam der Schmid wieder in den Stall. Diesmal mit einem Welpen auf dem Arm. Buddy. Ein Berner Sennenhund. Er kommt mit einem Herzfehler auf die Welt, das Erbe seiner Mutter. Buddy ist von Beginn an auf Medikamente angewiesen.

Zurück am Rheinufer: 33 Menschen sind heute dran. „Nummer Eins“, ruft Thomas. Er ist einer von drei Tierärzten. Sie alle arbeiten heute ehrenamtlich. Nicht in ihrer Praxis, sondern im Freien am Rhein. Dort, wo der Lebensmittelpunkt jener Menschen ist, die die mobile Tierarzt- und Sozialberatungspraxis „Underdog“ aufsuchen. Das Projekt wurde 2007 von Julia von Lindern ins Leben gerufen. Die Grundidee bestand darin, über die Tiere den Menschen zu erreichen, da es häufig ihre einzige Konstante im Leben ist. Weil immer wieder Beziehungen zerbrachen und sie enttäuscht wurden, öffnen sich Wohnungslose oftmals nur schwer.

Auf die Frage, wie dieser Ansatz Vertrauen der Wohnungslosen schaffen soll, antwortet Julia von Lindern: „Behandle sein Tier, dann geht es auch dem Menschen besser.“ Die Düsseldorferin ist Diplom-Sozialarbeiterin bei der Obdachlosenhilfe „Fiftyfifty“ und startete „Underdog“, wie sie selbst sagt, blauäugig. „Wir wollten zunächst mal sehen, ob die Behandlung der Hunde von Wohnungslosen angenommen wird.“ Getestet haben sie es erstmals in der Beratungsstelle an der Kurze Straße, mitten im Kneipenviertel. Mit mäßigem Erfolg. Die Behandlungen wurden zwar nachgefragt, das führte aber zu Lärm auf der Straße und Ärger mit den Wirten. Wirklich glücklich mit der gewählten „Praxis“ war aber auch Julia von Lindern nicht. „Wir haben an dem Tisch behandelt, wo wir auch gegessen haben.“ Also musste etwas Neues her, etwas Mobiles. Die Geburtsstunde des Underdog-Busses.

 Der ehrenamtliche Tierarzt untersucht das Fell des Hundes auf Parasiten.

Der ehrenamtliche Tierarzt untersucht das Fell des Hundes auf Parasiten.

Foto: Tom Oswald

Neben seinem Buddy führte Hans-Jürgen regelmäßig Pflegehunde der Tierhilfe Griechenland aus. Den Kontakt dazu hatte er von seiner Ex-Frau. „Einer der guten Kontakte“, wie er sagt. Zeit hätte er genug und mit Hunden kenne er sich auch aus. Mindestens einmal die Woche gingen sie mit den Pflegehunden spazieren. Sie kommen und gehen. Jede Woche ein anderer. Nichts besonderes. Bis auf eine Hündin. Skila, eine schier Unverwundbare. In diesem Augenblick beugt sich der Mann nach vorne und sagt: „Mit der Skila hat der Buddy sich super verstanden. Sie war eine griechische Schäferhündin — wunderschön sag ich dir.“ Er kramt ein Päckchen Tabak aus seiner Jackentasche und dreht sich eine Zigarette. „Mein Gott war die schmerzunempfindlich, nicht so ne Mimose wie Buddy.“ Er lacht. Bevor er zum Feuerzeug greift, um sich die Zigarette anzuzünden, ergänzt der alte Mann: „Buddy war ein guter Pflegevater.“

„Nummer sieben.“ Ein hellbrauner Labrador Retriever wartet auf seine Behandlung. Er hat eine kleine Wunde. Keine zwei Zentimeter von seinem Hals entfernt. Mit zwei seiner Pfoten steht er auf dem kleinen Metalltreppchen zum Eingang des Transporters. Sein schwarz-grünes Band liegt locker. Er zittert. Victoria ist das aktuelle Frauchen von „Nummer sieben“.

Ihr Name ist eigentlich ein anderer, den möchte sie aber nicht in der Zeitung lesen. Ihr Hund heißt Abrexa. „Er ist mittlerweile meiner, der alte Besitzer sitzt seit zweieinhalb Monaten im Knast.“, sagt die junge Frau mit russischem Akzent. Ihr Ex-Freund. „Er hat den Hund nicht gut behandelt, bei mir geht’s ihm besser.“ Sie schiebt nebenbei einen Kinderwagen und redet gleichzeitig zu ihrem Kind und Abrexa. In zwei Wochen müssen sie wieder zur Kontrolle kommen, dann aber in Holthausen und mit Sachkundenachweis. Das ist die einzige Regel für die Hundebesitzer: Abrexa zählt mit mehr als 20 Kilogramm Eigengewicht zur Gruppe der sogenannten 20/40-Hunde und ist eines der Tiere, das einen Sachkundenachweis benötigt. Julia von Linderns Projekt zählt auf Selbstverantwortung. Man wolle den Menschen nicht entmündigen, ihnen neben der Hilfe aber auch eigene To-Dos geben. „So hier noch die Tropfen, bitte zweimal täglich das Ohr von Abrexa einklappen und dann ihm die Tropfen geben.“ Tierarzt Thomas verabschiedet die beiden.

 Hans-Jürgen sitzt mit Freundin Lou-Lou und Hündin Babette auf der Treppe.

Hans-Jürgen sitzt mit Freundin Lou-Lou und Hündin Babette auf der Treppe.

Foto: Tom Oswald

Die Arbeit mit Wohnungslosen gliedert Julia von Lindern in drei Bereiche, die so genannten Säulen der Obdachlosigkeithilfe: Prävention, akute Unterstützung und Nachsorge. Menschen aus allen drei Bereichen können das Angebot von „Underdog“ wahrnehmen. So auch Hans-Jürgen, der, nachdem er sechs Wochen auf der Straße gelebt hat, mittlerweile wieder ein Dach über dem Kopf hat.

„Er war immer da. Buddy für mich und ich für Buddy.“ Trotzalledem ist Buddy ein Hund, einer der auch mal abhaut und Hasen hinterherrennt. Einmal lief er auf die A46, im Berufsverkehr. „Der Hase springt in ein Loch, der Buddy auf die Autobahn.“ Nach mehrmaligem Zurufen war kein Zurückkommen des Berner Sennenhundes in Sicht. Hans-Jürgen lief schließlich auf die Autobahn und holte ihn eigenhändig wieder von der befahrenen Straße. „Später am Abend hab’ ich auf WDR2 die Nachrichten eingeschaltet. Dann hör ich, dass ein Hund auf der Autobahn A46 war. Er hat drei Kilometer Stau verursacht.“

„Nummer 17“, ruft Tierarzt Georg. Hans-Jürgen und Hündin Babette sind an der Reihe. Daneben steht Hans-Jürgens Freundin Lou-Lou, die Besitzerin von Babette. Platinblondes, gekraustes Haar und ein braunes Pflaster auf der Stirn. „Ein Cut?“, fragt Georg. „Nee, hab mir wieder mal den Kopf angehauen“, antwortet Lou-Lou. Ihr Gesicht zieht dabei Falten. Sie liest gerne, erzählt sie. „Bald machen das meine Augen aber nicht mehr mit, in vier Jahren werde ich 60.“ Sie kramt ein Feuerzeug aus ihrer dunkelgrünen Jacke mit Tarn-Muster hervor und gibt es Hans-Jürgen für seine Kippe. „Ich bin echt gern hier, hier kommst du mit vielen Leuten ins Gespräch. Hans-Jürgen aber kenne ich schon länger.“

Sie haben sich im Bus kennengelernt. Vor zwei Jahren, als Lou-Lou am Tiefpunkt ihres Lebens ist. „Ich bin von Belgien nach Deutschland gekommen. Hier ging der Stress los. Erst die Ämter, dann wurde ich von einem Zug angefahren, dadurch hab’ ich meinen Job verloren und bin in die Frührente geschickt worden. Ab dem Zeitpunkt war ich erst mal auf der Straße,“ sagt sie. Heute wohnt sie in Mönchengladbach.

Der Veterinär streicht über Babettes Fell, um sie auf Milben und Flöhe zu untersuchen. Die Hündin bleibt dabei ganz ruhig. „Ah, da haben wir‘s.“ Georg ist fündig geworden und holt eine Salbe aus seiner Lederweste. Er trägt sie vorsichtig auf. Babette zuckt leicht. „Heute bitte nicht mehr streicheln, sie hat ein paar Milben abbekommen. Morgen sollte es aber wieder gehen. Einfach schön die Creme auftragen, Lou-Lou.“ Bevor die Beiden gehen, kommt Babette wieder an die Leine, ein weiches Halsband mit Leopardenmuster. Das ist Pflicht in der Altstadt. „Mach Platte“, sagt Hans-Jürgen. Und Babette legt sich mit dem Bauch auf den Bodenplatten der Rheinpromenade. Alle vier Pfoten von sich gestreckt.

Montag, 8. August 2016: „Um viertel vor Vier morgens komme ich mit einer Freundin nach Hause, da legt der Dicke sich auf den Balkon, fängt an zu hecheln. Ich sag, Lou-Lou, der stirbt. Und das ist er dann auch, eingeschlafen, zu Hause. Friedlicher geht’s nicht.“

Ein neuer Hund kommt für Hans-Jürgen nicht in Frage. Niemand kann Buddy ersetzen. Außerdem ist er alt, zu alt für einen Hund: „Ich bin bald bei dir“, sagt er gut zwei Jahre nach Buddys Tod. Mit der Pflegeschaft der Tierhilfe Griechenland hat auch aufgehört. Ohne den Dicken sei es nicht dasselbe. Schließlich war Buddy der eigentliche Pflegevater, nicht er. Hans-Jürgen zieht sich zurück. Der einzige Hund in seinem Leben ist nun Babette.

836 Tage nach dem Herzstillstand seines besten Freundes Buddy kramt Hans-Jürgen erneut in seiner Jackentasche. Diesmal holt er keinen Zigarettentabak hervor. Er öffnet seine Hand, sein Schlüsselbund ragt hervor. Eine kleine matt-silberne Box hängt daran. „Da ist der Buddy drin - und Daniela meine Ex-Frau, die beiden hab ich immer dabei.“ Er wischt sich eine Träne von der Wange. „Weg ist der Buddy nicht, ich denk’ jeden Tag an ihn. Er begeistert mich immer, der Dicke ey. Und wenn ich gleich tot umfalle, ist es so. Was soll’s.“ Er weint. „Wow, mein Gott, wir sind von Geburt an zum Tode verurteilt. Das ist normal.“ Hans-Jürgen nimmt erneut einen Zug aus der Flasche. Auf die Frage, was ihm noch bleibt im Leben, sagt er: „Wodka.“

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