Düsseldorf Wenn Tabletten süchtig machen

Der Arzneimittelmissbrauch nimmt zu. Die Sucht kann verheerende körperliche und psychische Folgen haben.

Düsseldorf: Wenn Tabletten süchtig machen
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Düsseldorf. Ob ein Medikament nützt oder schadet, ist vor allem eine Frage der Dosierung. Wenn Pillen zu lange und in zu großen Mengen geschluckt werden, machen sie krank und abhängig. In der Öffentlichkeit wird das Problem kaum wahrgenommen, obwohl der Arzneimittelmissbrauch ähnlich schwerwiegende Folgen wie die Alkoholkrankheit hat.

„Medikamente riechen nicht wie Alkohol, sie machen den Menschen nicht laut und unangenehm und sie sind heimlich und unauffällig einzunehmen“, weiß Anja Vennedey, Leiterin der Suchtambulanz und Tagesklinik der Diakonie in Flingern.

„Das Thema nimmt an Brisanz zu“, sagt sie. Betroffen seien zum größten Teil Frauen und alte Menschen. 1300 Klienten werden jährlich von den elf ausgebildeten Suchttherapeuten bei der Diakonie betreut.

Ein Großteil von ihnen ist polytoxisch erkrankt, sie leiden meist an Alkohol- und Tablettensucht, 50 Klienten haben ausschließlich eine Pillensucht. Vennedey ist überzeugt, dass zu viele Pillen über die Hausärzte in die Hände von Patienten gelangen: „Oft wäre eine Therapie angezeigt statt Tabletten zu schlucken.“

Iris Sefouh arbeitet als Suchttherapeutin beim Verein Bertha F. in Oberbilk, der zum Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband gehört. Sefouh wirft den Hausärzten gar vor, die Abhängigkeit der Patienten zu unterstützen: „Sie verordnen viel zu viel auf Privatrezept und das wird ja dann nicht dokumentiert“, sagt sie.

Sefouh kümmert sich mit ihren sieben Kolleginnen ausschließlich um suchtkranke Frauen, 300 Fälle haben sie pro Jahr. Etwa die Hälfte der Klientinnen leidet an Essstörungen, rund 25 Prozent haben eine Medikamentensucht, meist gepaart mit einer Alkoholsucht.

Auslöser für einen Medikamenten-Missbrauch sind meist schmerzhafte Krankheiten oder schwere seelische Belastungen. Besonders bei Schmerz-, Schlaf- oder Beruhigungsmitteln ist der Weg zur Tablettensucht jedoch nicht weit - das gleiche gilt für Psychopharmaka und Abführmittel oder Medikamente zur Gewichtsreduktion.

Der Psychiater Günther Frosch berichtet, dass Tablettensucht verheerende körperliche und seelische Folgen habe: „Viele Benzodiazepine, die in der Vergangenheit als Schlaf- und Beruhigungsmittel verschrieben wurden, sind mittlerweile wegen ihrer Gefährlichkeit betäubungsmittelpflichtig geworden, wie zum Beispiel das Rohypnol.“

Petra Franke, Chefärztin der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen im LVR-Klinikum, fordert eine Schulung niedergelassener Hausärzte: „Kein Arzt verschreibt bewusst Medikamente, um damit einen Reibach zu machen. Aber es muss ein Bewusstsein für alternative Hilfsmöglichkeiten geschaffen werden“, sagt sie.

Rund 2000 Suchtfälle werden alljährlich im LVR-Klinikum behandelt, Schwerpunkt ist der Alkoholismus, etwa zehn Prozent der Erkrankten haben mit Tablettensucht zu kämpfen. „Es ist gut, dass dieses Thema benannt wird, denn die Dunkelziffer ist immens.“ Franke schätzt, dass von knapp zwei Millionen Pillensüchtigen deutschlandweit kaum mehr als ein Prozent in Behandlung sei. „Wer seit Jahren regelmäßig vor dem Einschlafen auch nur eine einzige Tablette schluckt, sollte sich mit seinem Arzt beraten.“

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