Stadt-Teilchen Wer kennt ein Café, wo man Ruhe hat?

Die Latte-Macchiato-Mütter bleiben selten allein, sie neigen zur Rudelbildung

Stadt-Teilchen: Wer kennt ein Café, wo man Ruhe hat?
Foto: Foto: Mascha Brichta/dpa

Wenn ich mal so richtig Ruhe haben möchte, dann gehe ich in ein Café. Am besten in so ein schickes, wo die Kaffeekompositionen heißen wie irgendwelche abgelegenen Dolomitentäler (Latte macchiato) oder klingen wie irgendwelche mexikanischen Terroristen (Cortado). Die Verständnisbarriere hält viele unruhige Menschen ab, die einfach mal so einen Kaffee trinken und dabei lautstark palavern wollen.

Obwohl „hält“ falsch gesagt ist. Hielt passt wohl besser. Inzwischen kann nämlich auch der letzte Depp decodieren, dass hinter der Bezeichnung „Flat White“ weniger Milchschaum als üblich steckt. Längst ist er geknackt, der Kaffeecode, der einst als verbale Unverständnisschranke alle Gestalten mit übersichtlicher Intelligenz fernhielt. Der Erfolg des Kaffeebildungswerkes hat indes auch einen gewichtigen Nachteil. Nun strömen nämlich die Massen in mein Refugium, und ich sinniere, ob es wirklich gut ist, wenn alle dahin kommen, wo ich bislang meine Abgeschiedenheit zelebrierte.

Zuerst waren die Mütter da. Sie wuchteten ihre Kinderwagen zwischen die Tische, kaum dass das Rauchverbot aufgehoben war. Nun sind einzelne Mütter mit einem Kinderwagen nichts Schlechtes. So ein bisschen frisches Leben zu schnuppern, tut ab und an ganz gut.

Nur bleiben junge Mütter selten lange allein. Sie neigen vor allem nachmittags zur Rudelbildung. Es gesellen sich gerne andere junge Mütter dazu. Auch mit Kinderwagen. Plus Inhalt. Auf einmal ist der Raum erfüllt vom Geschnatter junger Frauen und dem zwischenzeitlichen Ruf hungriger Säuglinge, die nach ihrer Tankstelle rufen. Senkt man da nicht hurtig den Blick, schnellt einem schnell mal eine bleiche Brust entgegen und wird dem nach Bedienung krakeelenden Neubürger in die Mundöffnung gepresst.

Alles nicht so schlimm. Ich kann mich auch umgewöhnen. Absolute Ruhe gibt es eben nicht in der Stadt. Ich habe mich irgendwann gewöhnt an die Mütter, die umso lauter werden, je größer ihre Population anschwillt. Immer kräht dann irgendwer durch den Raum. Also nicht nur die Säuglinge. Auch die Mütter. „Machst du mir noch eine Latte“, rufen sie der Bedienung zu, so als seien sie alleine am Ort. Aber wie gesagt, ich habe mich gewöhnt.

Allerdings ist es mit der Zeit schlimmer geworden. Die Kinder sind nämlich über die Jahre älter geworden. Mein Gott, wie groß die geworden sind, höre ich mich denken, als ich eine dieser Latte-Mütter wiedererkenne. Groß geworden ist natürlich nicht die Mutter, sondern vor allem ihr Kind. Das ist jetzt schon mindestens im Vorschulalter oder bereits darüber hinaus.

Und der Nachwuchs kann sogar schon zählen. Das macht ein Knirps deutlich hörbar klar. Er lässt alle im Café an seinen Künsten teilhaben. „Sieben, acht, neun“, zählt er. Nicht leise, sondern laut. Sehr laut. Und Mama streicht ihm anerkennend übers Haar. Ja, Kevin kann zählen. Ich weiß nicht, ob das Kind Kevin heißt, aber ich nenne Kinder, die mich stören, grundsätzlich Kevin oder Schantall.

„Siebzehn, aaachzeehn, neuenzeeehn.“ Kevin hört nicht auf. Er hat schon richtig was drauf. Mama ist so stolz auf die frühkindliche Entwicklungsexplosion, dass ihre Augen glänzen. „Siebenzwanzisch, achtenzwanzisch, neunezwanzisch.“ Ich hoffe insgeheim, dass Kevins Künste irgendwann versiegen mögen. Ganz von alleine. Ohne, dass ich aufstehen und mit einem beherzten „Jetzt ist aber auch mal gut“ dazwischenfahren muss.

Aber Kevin kann mehr. „Neununpfirsich, fönfzisch, einefönfzisch.“ Das wird ein ganz harter Nachmittag. Ich blicke verzweifelt nach draußen. Da scheint die Sonne. „Schönes Wetter“ könnte ich der Mutter zuflöten und ihr signalisieren, dass Mütter mit Kindern bei qualifizierten Temperaturen auf den Spielplatz gehören und nicht in mein Café. Aber ich habe keine Chance.

„Dreienneunzisch, vierenneunzisch, fönfenneunzisch.“ Kevin will die Hundert. Ganz klar. Kevin kann die Hundert. Immerhin markiert sein galoppierender Fortschritt so etwas wie Licht am Ende des Tunnels. Alles hat ein Ende, denke ich - und täusche mich gewaltig.

Das Licht am Ende des Tunnels war ein Schnellzug, der mich nun überrollt. „Vier, fönf, sähhächs“, höre ich Kevin sagen, und Mama platzt fast vor Stolz. Wer das einmal erlebt hat, wie Kevin zum dritten Mal in die Bis-Hundert-Schleife eintaucht, der wird nie mehr was gegen Pokemonspieler sagen, die irgendwo auf dem Bürgersteig campieren.

Für mich ist dieses Café verloren. Ich kann hier nicht mehr hin. Selbst wenn Kevin nicht mehr da sein sollte, werde ich ihn hören. „Fönfendreisisch, Sechsdreisisch, siebenendreisisch.“ Das geht nie mehr weg. Tinnitus ist ein Klacks dagegen. Nur für den Fall, dass irgendwer noch ein ruhiges Café kennt, wo man auch wirklich seine Ruhe hat: Ich wäre für einen Tipp sehr dankbar.

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