Stadt-Teilchen Das Leben ist so einfach, wenn man sich nicht entscheiden muss

Düsseldorf · Die Suche nach der richtigen Marmelade ist extrem anstrengend. Besser, man geht nicht in den Supermarkt.

Wer einfach nur eine Marmelade sucht, ist im Supermarkt falsch. Er sollte dann lieber zu den selbstgemachten Konfitüren greifen.  Foto: Sergej Lepke

Wer einfach nur eine Marmelade sucht, ist im Supermarkt falsch. Er sollte dann lieber zu den selbstgemachten Konfitüren greifen. Foto: Sergej Lepke

Foto: Lepke, Sergej (SL)

Ich war fix und fertig. Ich war Opfer. Und Schuld trug meine Frau. Die hatte gesagt, ich solle doch mal aus unserem Lieblingssupermarkt in Bilk eine neue Marmelade mitbringen, eine, die wir zuvor noch nie auf unserem Frühstückstisch hatten, die aber auf jeden Fall ein bisschen exotisch schmecken sollte, und wenn sie gesund wäre, käme das auch gut.

Ich tat wie mir geheißen und betrat bester Laune unseren geliebten Konsumtempel und steuerte auf die Region zu, in der ich die Marmeladen vermutete. Ich malte mir vorab aus, wie ich einen flotten Blick auf die Auswahl werfen und dann mit routiniertem Jägergriff ein, zwei Gläser als Beute in meinen Einkaufswagen verfrachten würde. Ich ahnte nicht, wie ahnungslos ich war. Vor dem Regal angekommen verschlug es mir den Atem. Wie oft war ich hier schon vorbeigeeilt und hatte aus den Augenwinkeln registriert, dass hier Konfitüre und Co. ihr Dasein in der Auslage fristen. Niemals allerdings hatte ich meinen Blick fokussiert, niemals war ich gewahr geworden, was hier wirklich geboten wird.

Ich stand plötzlich vor einer Wand aus Marmelade. Ich erblickte nicht zehn verschiedene Sorten, nicht 50, nicht 100. Ich versuchte, die verschiedenen Sorten zu quantifizieren. Bei 200 angekommen, musste ich zugeben, dass ich ein paar Fächer übersehen und mich ganz offensichtlich verzählt hatte. Ich war augenblicklich sehr müde und wollte sofort aufgeben. Über 200 Marmeladensorten, wer soll da noch durchblicken? Was ist das für eine Welt?

Ich entdeckte Sorten, von denen ich vorher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. „Beschwipste Aprikose“ stand neben „Physalis“ und „Weinbergpfirsich“. Die „Badische Schwarzkirsche“ und „Ingwer“ buhlten ebenso um meine Aufmerksamkeit wie „Himbeere sanft“ und „Rhapsodie de Fruit – Airelles & Myrtilles“. Natürlich gab es auch Gläser, auf denen einfach nur „Erdbeere“ oder „Kirsche“ stand, aber eben auch solche, die per Aufschrift „Glück“ verhießen.

Glück ist gut, dachte ich. Aber als ich dann die Gläser in meinen Wagen packen wollte, kamen mir doch Zweifel. Schließlich gab es das Glück mit Mango oder mit Blutorangen oder mit Rhabarber. Welches Glück war mir zugedacht? Was, wenn ich das falsche Glück wähle und meiner Liebsten eine nicht erwünschte Sorte präsentiere? Ich war komplett überfordert.

WZ-Kolumnist Hans Hoff

WZ-Kolumnist Hans Hoff

Foto: NN

Ich verließ den Supermarkt und schlenderte erst einmal ein wenig an der Düssel entlang. Schön, dass es nur eine Düssel gibt, dachte ich, aber dann fiel mir ein, dass es ja den Südarm und den Nordarm des in dieser Stadt namensgebenden Fließgewässers gibt. Nichts da mit Einzigartigkeit.

Ich rief meine Frau an und erzählte ihr, dass ich sehr unglücklich sei, weil ich mich nicht entscheiden könne, welche Sorte Glück denn nun die richtige für mich sei. Meine Frau seufzte. Sie erklärte mir, dass ich mein Problem nicht exklusiv hätte, dass es immer wieder Menschen plage, die in unserer Überflussgesellschaft mit zu viel Auswahl nicht klarkommen. Ich sei gefangen im so genannten Marmeladen-Paradoxon. Da komme halt etwas durcheinander in den Basalganglien unterhalb der Großhirnrinde und dem anterioren cingulären Cortex im Stirnlappen des Gehirns. Ich verstand nicht wirklich, spürte aber augenblicklich einen schweren Schmerz im Kopf, doch meine Liebste beruhigte mich. Ich sei nicht krank, ich sei so wie viele andere Menschen auch.

Ergeben haben das Versuche, bei denen Wissenschaftler ihren Probanden in einem Versuch sechs verschiedene Marmeladensorten zum Probieren angeboten haben, in einem anderen Versuch vierundzwanzig Sorten. Dabei haben sie herausgefunden, dass die höhere Auswahl zu sinkender Kauflust führt.

Es war eine schöne Erkenntnis, dass ich nicht allein war im Marmeladen-Paradoxon, und mein Kopfschmerz war von einer Sekunde auf die andere erträglich. Ich überlegte kurz, ob es sich lohnen würde, den Düsseldorfer Supermarkt mit der größten Marmeladenauswahl ausfindig zu machen. Vielleicht bietet ja irgendwer über 300 Sorten an. Aber dann stufte ich das Vorhaben als zu anstrengend in der Ausführung ein und verwarf es.

Ich schlenderte sinnierend noch eine Weile weiter durch Bilk, dann durch Unterbilk. Ich erfreute mich am knisternden Herbstlaub unter meinen Füßen, und ich vergaß kurz das Durcheinander in meinem Gehirn. Irgendwann kam ich schließlich an einem kleinen Nippes- und Blumenladen vorbei. In dem erblickte ich durchs Schaufenster drei Gläser Marmelade. Auf einem Tischchen. Alle drei von derselben Sorte. Alle drei Kirsche. Ich ging hinein und fragte, ob es noch andere Sorten gebe. Die Besitzerin verneinte. Sie habe die Marmelade selbst gemacht und dieses Jahr nur Lust auf Kirsche gehabt. Eigentlich dürfe sie so etwas gar nicht verkaufen, aber sie wisse sonst nicht wohin mit ihrer Ernte.

Ich kaufte alle drei Gläser. Augenblicklich herrschte wieder beruhigte Ordnung in meinen Basalganglien unterhalb der Großhirnrinde und dem anterioren cingulären Cortex im Stirnlappen des Gehirns. Was soll ich sagen: Die Marmelade, sie schmeckte vorzüglich, sie schmeckte vor allem einzigartig. Das Leben kann so einfach sein, wenn man sich mal nicht entscheiden muss.

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