Stadt-Teilchen Plötzlich Stille, plötzlich 1970

Düsseldorf · Unser Kolumnist fährt in ein Viertel in Bilk und dann in musikalischen Erinnerungen weiter.

 Die Bruderkirche an der Johannes-Weyer-Straße in Bilk.

Die Bruderkirche an der Johannes-Weyer-Straße in Bilk.

Foto: Hans Hoff

Als ich die Tage mal vom Moorenplatz entlang der Bahnlinie in Richtung Stadt radelte, versperrte man mir plötzlich den Weg. Durch den großen Neubaukomplex an der Witzelstraße, wo sehr emsig an einem neuen Wohnviertel gewerkelt wird, war mein Radweg blockiert, was mich zwang, in die Johannes-Weyer-Straße abzubiegen, was wiederum zu einem unmittelbaren Aha-Erlebnis führte.

Das hat nicht nur damit zu tun, dass man dort von einem auf den anderen Moment die Welten wechselt. Eben noch hat der brodelnde Verkehr auf der Witzelstraße in den Ohren geschmerzt, da herrscht plötzlich Stille. Also nicht wirklich Stille. Es ist immer noch Düsseldorf, immer noch Großstadt. Aber aus dem Brodeln ist ein sanftes Rauschen geworden, so als habe irgendjemand einen großen Vorhang vor den dauerhaften Rush-Hour-Moloch gezogen und ihn so für die Ohren unsichtbar gemacht. So schnell kann das manchmal gehen. Eben noch urbane Metropole, auf einmal beinah dörfliche Idylle.

Ich fuhr also in die Johannes-Weyer-Straße und war plötzlich nicht nur in einer anderen Welt, ich fand mich auch wieder in einer anderen Zeit. Zumindest in Gedanken war auf einmal wieder 1970.

Man muss dazu wissen, dass an der Johannes-Weyer-Straße die Bruderkirche liegt, ein Ableger der Lutherkirche an der Kopernikusstraße. Ich kannte diesen Ort, denn ich hatte schon vor Jahren beschlossen, dass an den Gemeindegebäuden just dieser Bruderkirche dereinst eine Gedenktafel aufgestellt werden sollte. „Hier begann Hans Hoff seine musikalische Karriere“ würde dort zu lesen sein, und Heerscharen von Pilgern kämen täglich vorbei und aus dem Staunen nicht heraus.

Sie würden sich wundern über die unscheinbaren Backsteinhäuschen, die einen Innenhof umfassen, von dem aus der Weg in die Bruderkirche führt. Sie würden staunen, dass eine Karriere in so niedrigen Zweckbauten beginnen konnte. Man muss sich das in etwa so vorstellen wie in Liverpool, wo die Beatles-Fans ja auch durch die Stadt pilgern und das Straßenschild bewundern, auf dem Penny Lane steht.

Ist natürlich alles Quatsch, weil ich kein berühmter Musiker bin. Ich war nie einer, und ich werde auch nie einer werden. Aber der Gedanke daran, dass ich mal einer werden könnte, der hat mich nie verlassen, und die vergeblichen Versuche, eventuell doch einer zu werden, sind Legion.

Das klingt vielleicht ein bisschen tragisch, aber das ist es nicht. Popmusik lebt zu großen Teilen auch von der Illusion, die sie vermittelt, von diesen Träumen, die man träumt, wenn man einen besonders tollen Song hört und dann alles so haben möchte, wie es sich in dem Song anfühlt.

Im Jahre 1970 hieß der Song für mich „Paint It Black“. Der Hit der Rolling Stones“ war zu dem Zeitpunkt zwar schon vier Jahre alt, aber was störte das drei Bilker Jungs, die sich gerade zusammengetan hatten, um den Olymp der Rockmusik ins Wanken zu bringen. Lothar spielte sehr gut Gitarre, Peter hatte einen Bass und ich ein Schlagzeug.

Das war mir ohne eigenes Zutun in die Hände gefallen, weil mein Vater Krach mit seinen musikalischen Kumpels hatte. Er hatte lange in der Rheinbahnkapelle gespielt und oft Tanzmusik mit den Jungs aus dem Betriebsorchester gemacht, aber dann waren wohl die bandüblichen Konflikte aufgetreten, ein Wort gab das andere, und aus war es mit dem Engagement bei der Fuhrunternehmenscombo.

Auf einmal bekam ich also ein Schlagzeug geschenkt. Ich baute es in meinem Kinderzimmer auf und übte täglich. Also, ich übte nicht wirklich, ich klopfte wild auf den Trommeln herum, auf dass sie schöne laute Töne von sich gaben. Ich lernte, dass es die Bassdrum gibt, die Snare und die hängenden und die stehenden Toms. Ich weiß nicht, wie die anderen Hausbewohner das damals ausgehalten haben. Möglicherweise hat meine Mutter mit ihnen geredet und ihnen gesagt, dass sich das schon einspielen werde.

Irgendwann ist dann aber der Hausgemeinschaft wohl der Geduldsfaden gerissen, und meine Mutter fragte, ob ich nicht eventuell doch irgendwo anders üben könnte. Da passte es, dass einer von uns gute Beziehungen zur Lutherkirche hatte, zum Pfarrer Zimmer, der gerade die frisch eröffnete Bruderkirche übernommen hatte. Es brauchte nur eine freundliche Anfrage, und schwupps hatten wir unseren Proberaum.

Wir konnten das erst nicht glauben, weil wir Pfarrer Zimmer als erzkonservativen Kirchendiener einschätzten, dessen Strenge uns schon so manches Mal genervt hatte. Aber manchmal gehen halt Dinge zusammen, von denen man nie vermutet hätte, dass sie jemals eine Einheit bilden könnten.

Natürlich hatte der Proberaum auch einen Preis. Man bezahlt ja auf dem Weg zum großen Ruhm oft dafür, dass man eine Stufe weiterkommt. In unserem Fall war das der von uns erwartete regelmäßige Gottesdienstbesuch. Wir regelten das so, dass sich jeden Sonntag einer zur Predigt von Pfarrer Zimmer einfinden musste. Er musste dort stets sicherstellen, dass er auch gesehen wurde, was nicht weiter schwer fiel, weil junge Menschen mit längeren Haaren 1970 noch auffielen, wenn sie in einem Sonntagsgottesdienst herumsaßen.

Wir hatten natürlich nicht wirklich längere Haare. In Wahrheit berührten sie gerade mal unsere Hemdkragen, aber im Kampf gegen Eltern, die uns gerne mit raspelkurzen Schnitten gesehen hatten, war das Erreichen des Kragenansatzes schon ein wichtiger Etappensieg.

Wir trafen uns zur Probe, und wir spielten die Songs, die wir mochten. Das war gut zu hören, nicht nur im Proberaum, sondern auch in den angrenzenden Wohnhäusern. Im Prinzip war das ein Mörderlärm, den wir da mit kirchlichem Segen veranstalteten, aber niemand beschwerte sich. Man sagt immer, das sei so eine graue Zeit gewesen Ende der 60er, Anfang der 70er, aber in Sachen Lärmtoleranz waren die Menschen sehr viel gelassener als heutzutage.

Sie mussten dementsprechend auch „Paint It Black“ erdulden. Immer wieder. Man muss dazu wissen, dass der Song mit einer eher leisen Gitarrenlinie von Keith Richards oder Brian Jones begann, und dann hämmerte Charlie Watts wie wild auf seine Toms ein. Hämmern konnte ich auch gut. Lothar spielte seine Gitarrenlinie, und dann hämmerte ich los, dass die Toms krachten.

Das passte ganz gut in der Strophe, klang aber irgendwie komisch im Refrain, weil Charlie Watts da durchaus auch mit den anderen Trommeln zeigte, was er drauf hatte. Lothar meinte dann, dass die Toms im Refrain nicht wirklich passten, womit er natürlich absolut recht hatte. Ich aber, der nichts anderes draufhatte, behauptete dreist, er läge falsch. Ich hätte das absolute Gehör, und er solle sich mal lieber um seine Gitarre kümmern.

Was soll ich sagen: Meiner Schlagzeuger-Karriere war ebenso wie unserem Trio keine große Zukunft beschieden. Das lag nicht nur daran, dass ich bei fast jedem Stück behauptete, es reiche, wenn ich auf die Toms einkloppe, es hatte auch damit zu tun, dass Zeugnisse anstanden, und auf meinem stand irgendein Quatsch, aus dem meine Eltern lasen, dass der hoffnungsvollste Schlagzeuger von ganz Bilk es nicht in die nächste Klasse geschafft hatte.

Mir wurde zwingend nahegelegt, das Schlagzeug zu verkaufen, was nach meiner damals exklusiv für mich entworfenen Verschwörungstheorie eingefädelt worden war von den anderen Drummern dieser Welt, die nun meine knallharte Konkurrenz nicht mehr zu fürchten hatten. Sie konnten beruhigt sein. Ich habe danach nie wieder ein Schlagzeug angefasst.

Als ich nun vor der Bruderkirche stand, beschlich mich Wehmut. Ich hörte auf einmal wieder „Paint It Black“ durch die Johannes-Weyer-Straße hallen, ich erinnerte mich an diesen evangelischen Geruch, der in den Gemeinderäumen herrschte, aber ich stand vor einem Zaun, der im Moment das ganze Areal umgibt.

Ich las in einem Aushang, dass die Lutherkirche die Bruderkirche im Januar aufgegeben hat, dass der Komplex nun einer Wohnbebauung weichen muss. Ich sah hinter den Gittern das wild wuchernde Gras, ich blickte auf den Backsteinbau, wo ich vor 50 Jahren so hoffnungsvoll gestartet war. Ich erinnerte mich an all die Träume, die ich damals hatte. Ich wollte Popstar werden, so wie die Stones. Wer braucht schon Gymnasium, dachte ich.

Ich las, dass die Düsseldorfer Wohnungsgenossenschaft die neuen Gebäude auf dem Gelände der Bruderkirche errichtet. Ich denke, ich werde denen mal schreiben und sie darauf hinweisen, welch geschichtsträchtiges Gelände sie zu bebauen gedenken und was das für die Popfans dereinst bedeuten könnte. Ich werde fragen, ob sie da nicht Möglichkeiten sehen. Für eine kleine Gedenktafel ist doch immer noch irgendwo Platz.

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