Stadt-Teilchen Die letzte Fahrt der Ringlinie naht

Düsseldorf. Viele Menschen haben sich ja verabredet, demnächst die Straßenbahnlinie 712 zu bevölkern, wenn die zum letzten Mal den langen Weg von Ratingen nach Volmerswerth antritt.

Wenn die U-Bahn kommt, wird alles neu. Man muss sich dann von Namen verabschieden, aber auch von Gewohnheiten. Straßenbahnen sind tolle Gewohnheitsbehälter. In ihnen schlummern die Erinnerungen an viele Jahre. All die langen Zeiten, da man durch die meist zerkratzten oder wenigstens beschlagenen Fenster schaute, mit leerem Blick ins Nirgendwo — all diese Zeiten verklären sich im Rückblick zu einer wunderbaren Phase des jüngeren Lebens.

Genau deshalb fällt wohl auch der Abschied so schwer von der 712. Mir persönlich fällt der Abschied von der alten 706 viel schwerer. Die 706 war mal die Bahn meiner Kindheit, als sie noch einfach die Sechs war. Sie ist die einzige Linie, die einmal rund um die City führt. In 49 fahrplanmäßigen Minuten kann man auf Stadtrundfahrt gehen und entdeckt bis auf den Rhein fast alles, was in Düsseldorf wichtig ist, die Banken, die wichtigen Kaufhäuser, die Industriebrachen, die Bahngleise, den Volksgarten, den Lastring. Genau das wird vorbei sein, wenn die U-Bahn kommt. Dann wird die 706 zwar noch da sein, aber ihre Besonderheiten sind dann nur noch nachzulesen. Sie wird noch rund fahren, aber sie wird nicht mehr zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren. Sie wird nicht mehr in zwei Versionen existieren. Sie wird ihre wunderbare Uneindeutigkeit verlieren. Wie viel Kontakt zu Menschen habe ich bekommen, wenn ich als Kind am Merowingerplatz stand und auf meine Sechs wartete. Immer wieder wurde ich angesprochen und gefragt, welche Sechs denn nun in die Stadt fahre. „Kommt drauf an“, sagte ich, denn ich fand es ungerecht, nur die Altstadt und anliegende Bezirke als Stadt zu bezeichnen. Waren Oberbilk, Flingern und der Brehmplatz keine Stadt? Damals unterschieden sich die beiden Streckenführungen der Sechs noch durch die Farbe. Es gab die rote Sechs und die normale, die schwarze Sechs. Die rote Sechs führte über Oberbilk zum Brehmplatz, die schwarze zum Jan-Wellem-Platz. Oder war es andersherum? Egal.

Wir machten uns als Kinder manchmal einen Spaß daraus, ahnungslose Menschen in die falsche Sechs zu setzen. Heute würden wir das mit dem Ansinnen begründen, die Geschäfte am Oberbilker Markt wirtschaftlich fördern zu wollen. Damals war es juvenile Boshaftigkeit, gespeist aus der Ahnungslosigkeit des Unschuldigen. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht, auf die rote Sechs zu warten. Immer wenn ich an der Haltestelle ankam, rauschte gleich eine Bahn heran. Immer fuhr sie nicht in meine Richtung. Es war die schwarze Sechs, die kam. Danach musste der Regel folgend eine rote Sechs kommen. Kam aber nicht. Stattdessen schon wieder eine schwarze Sechs. Das Spiel änderte sich, wenn ich dringend mal in die Stadt musste. Dann kamen nur rote Sechsen. Manchmal kam es auch vor, dass man im Frühmorgentran die falsche Tram nahm und dann hinter dem Abzweig Hennekamp entsetzt feststellte, dass man auf falschen Pfaden unterwegs ist und sein Ziel mit Sicherheit nicht mehr pünktlich erreichen werde. Eintrag ins Klassenbuch war die Folge. „Hoff schon wieder zu spät“, stand dann da. Drei Einträge bedeuteten einen Brief an die Eltern, bedeuteten Schimpfe, und alles wegen der blöden Sechs und ihres komplizierten Systems. Das hat nun bald ein Ende, wenn die Sechs am Hennekamp nur noch nach rechts fährt, Irrtum ausgeschlossen. Mein in Jahrzehnten angesammeltes Wissen um die wundersame Bahngleisteilung ist nun nutzlos. Die alte Linienführung ist weg. Futsch. So vieles anderes ist schon lange weg. Zum Beispiel die tollen Kinoplakate, die am Merowingerplatz an der Litfasssäule hingen. Da war zu lesen, was in den Lichtspielhäusern lief. Es lief viel. Ich habe mir damals alle Filmnamen gemerkt und später in der Bahn fantasiert, was im jeweiligen Film wohl passieren würde.

Man mag mich sentimental schelten, wenn ich an so etwas mit einer gewissen Zärtlichkeit denke, aber das Leben besteht ab einem gewissen Zeitpunkt jenseits der 30 vornehmlich aus Abschiednehmen. Besser man erledigt das in Stücken, dann kommt später nicht alles auf einmal abhanden. Ich habe mich deshalb am Merowingerplatz noch einmal die Sechs gesetzt, die ja seit der Aufnahme der Rheinbahn in den Verkehrsverbund 706 heißt. Das heißt, ich wollte mich in die Sechs setzen, in die, die direkt zum Jan-Wellem-Platz fährt, die einst schwarze Sechs. Was soll ich sagen? Es war wie früher. Es kam eine rote Sechs und dann noch eine und dann noch eine. Als ich schon aufgeben wollte, nahte dann endlich meine Bahn. Ich stieg ein und rauschte los.

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