Schultag Schüler bekommen jeden Tag eine neue Chance

In unserer Serie stellen wir die Schulen dieser Stadt vor. Unsere Autoren besuchen die Einrichtungen an einem normalen Schultag und berichten davon. Am Ende des Jahres wählt eine Jury die Träger des Schulpreises, den die WZ und die Stadtwerke vergeben. Dieses Mal: die Martin-Luther-King-Schule in Gerresheim.

 Schulleiter Bertram Boeddinghaus und Schüler David bringen in der Werkstatt die Schulfahrräder auf Vordermann.

Schulleiter Bertram Boeddinghaus und Schüler David bringen in der Werkstatt die Schulfahrräder auf Vordermann.

Foto: Zanin, Melanie (MZ)

Cornelia Knecht startet mit einem positiven Erlebnis in die Woche. Gestern ist ihr Armin in die Arme gelaufen und erzählte ihr, dass er endlich Freunde gefunden habe. Der stellvertretende Schulleiterin sind solche Momente wichtig. „Echte Lichtblicke sind das“, sagt sie. Vor eineinhalb Jahren hat der Junge noch verschüchtert bei ihr gesessen, sich oftmals so lange und intensiv im Spiegel betrachtet, bis er weinte. Heute hat er seine Clique, zeigt sich zuweilen sogar als Anführer der Truppe. Klettern und toben hat er längst für sich entdeckt. Armin hat die Erfahrung gemacht, die die meisten Kinder der Martin-Luther-King-Schule machen: Sie werden angenommen, eben so, wie sie sind. Von anderen Kindern, aber vor allem von Lehrern, die ihnen jeden Tag zeigen, dass jemand an sie glaubt und sie nicht als Störenfried abstempelt.

Die Martin-Luther-King-Schule ist eine Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung. Rund 150 Schüler besuchen die Gerresheimer Schule an der Schönaustraße, von Klasse 1 bis zu Klasse 10. Die Anzahl der Schüler schwankt, weil im Laufe des Schuljahres immer wieder Kinder von Regelschulen an die Förderschule wechseln. Nämlich dann, wenn die Kinder dort auffällig werden und ihnen ein sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf zugesprochen wird. „Oftmals werden diese Kinder an Regelschulen als Störenfriede erlebt. Sie gelten schnell als diejenigen, die an allem schuld sind - dass der Ablauf nicht funktioniert, dass die Lehrerin mit den Nerven am Ende ist. So werden sie schnell zum Außenseiter“, sagt Schulleiter Bertram Boeddinghaus. Weil sie nicht still sitzen, ihre Emotionen nicht regulieren, ihre Impulse nicht kontrollieren können. Weil sie nie gelernt haben, mit Grenzen und Regeln umzugehen, Konflikte anders als körperlich anzugehen. „Diese Kinder brauchen andere Rahmenbedingungen, die in einer Regelschulklasse mit bis zu 30 Kindern und bis zu neun Lehrern pro Woche einfach nicht gegeben sind“, sagt Boeddinghaus.

An der Martin-Luther-King-Schule lernen die Schüler jahrgangsübergreifend in Gruppen - in der Primarstufe sind es etwa zwölf Schüler pro Gruppe, in den höheren Stufen bis zu 15 Schüler. Die kleinen Lerngruppen ermöglichen individuelle Hilfe, intensive Zuwendung und enge Kontakte und Kontrolle. Gleichrangig mit der Vermittlung der Lerninhalte einzelner Unterrichtsfächer werden die Schüler in der Entwicklung ihres Lern- und Sozialverhaltens gefördert. Für jeden Schüler werden individuelle Lern- und Bildungspläne erstellt. Unterrichtet und durch die Woche begleitet werden die Kinder von einem Klassenlehrerteam, hinzu kommen Pädagogen aus der OGS und Integrationshelfer. „Unsere Schüler brauchen feste Bezugspersonen. Das ist extrem wichtig“, betont Boeddinghaus. „Ohne diese Bindung gibt es keine Erziehung. Nur so kommt man an die Kinder heran.“

 Und das erlebt man sogleich auf dem Pausenhof. Boeddinghaus ist auf dem Weg zur Fahrradwerkstatt, in der die Schulräder in Schuss gehalten werden. Einige Schüler kommen auf den Schulleiter zu, reichen ihm die Hand, berichten, was heute noch ansteht oder warum sie nicht pünktlich waren. Andere schreien hinter ihm her. Der Schulleiter geht nicht weiter darauf ein. „Man kann hier nur arbeiten, wenn man das aushält“, sagt Boeddinghaus. Dass Schüler den Lehrern gegenüber verbal ausfallend werden, das passiere nahezu täglich. „Man ist ja meist der Überbringer der schlechten Botschaft: dass der Schüler länger als fünf Minuten still sitzen, er seine Aufgabe erledigen soll. Ist doch klar, dass das zu Konflikten führt.“

 Die Haltung der Lehrer sei dabei ganz entscheidend. Dem Kind immer wieder eine neue Chance zu geben, Person und Handlung getrennt voneinander zu betrachten, das sei für die Pädagogen täglich eine Herausforderung, aber auch Grundvoraussetzung für die Arbeit an der Schule. „Nur wenn das Kind das Gefühl bekommt, akzeptiert zu sein, entsteht Bindung“, sagt Boeddinghaus.

Und aus ihr heraus entsteht oftmals Motivation. „Viele Kinder sagen, sie haben für mich gelernt. Oder Hausarbeiten gemacht, um mir eine Freude zu machen“, berichtet Cornelia Knecht aus ihrem Schulalltag. Es gehöre aber auch zu ihrem Alltag, mal zwischen zwei Streithähne zu geraten und bei dem Versuch, sie auseinanderzuhalten, einen Tritt zu kassieren. „Hier darf man nichts persönlich nehmen“, sagt sie.

Bertram Boeddinghaus ist seit 2009 Schulleiter, seit 1989 Förderschullehrer. Er kennt die anfänglichen Zweifel der Eltern von Kindern, die an der Regelschule anecken und in der Martin-Luther-King-Schule auf andere Kinder mit „belasteten Biografien“ stoßen. „Eltern haben oft Ansteckungsangst“, führt er aus. Das sei auch der Grund, weshalb einige Eltern trotz des per Gutachten festgestellten sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs das Kind erst einmal auf eine Regelschule schicken. „Wir haben gerade zwei Schüler aus der ersten Klasse aufgenommen, die es erst einmal auf einer Grundschule probieren sollten. Nun starten sie ihre schulische Laufbahn direkt mit einem Misserfolg“, sagt Boeddinghaus. Bei anderen Schülern wiederum kann es in einer überschaubaren Grundschule durchaus klappen, ein verhaltensauffälliges Kind durch die vier Jahre zu bringen. „Wenn in der weiterführenden Schule dann aber keine feste Bezugsperson mehr da ist, sondern das Kind mehrere Fachlehrer vor die Nase gesetzt bekommt, platzt die Bombe.“

Inklusion funktioniere so nicht. „Laut der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen müssen sich Schüler mit Beeinträchtigung nicht der Institution anpassen, sondern die Institution muss sich den Bedürfnissen der Kinder anpassen“, erläutert der Schulleiter. „Beim Rollstuhlfahrer weiß jeder, was das heißt: Rampe, Aufzug, Barrierefreiheit. Nur was bekommen unsere Kinder?“ Nicht einmal die Haltung der meisten Lehrer stimme. „Die wollen nicht mit diesen Kindern arbeiten“, ist er überzeugt. „Die sind mit ihren eigenen vollen Klassen schon bedient.“

 Probleme mit der Stigmatisierung, eine Förderschule zu besuchen, haben laut Boeddinghaus aber nicht nur Eltern. Auch die Schüler selbst wissen um den öffentlichen Ruf der Schulform.

Gleichwohl schätzen sie ihre Schule, kehren nach dem Besuch einer Regelschule oftmals freiwillig zurück oder suchen auch noch Jahre nach ihrem Abgang den Kontakt zu den Lehrern. Und stehen Ferien an, so merken die erfahrenen Pädagogen an der Stimmung in den Klassen, wie sehr die Aussicht auf schulfreie Wochen die Schüler belastet. Zugeben würde das natürlich niemand von ihnen.

 Etwa ein Drittel der Schüler schafft den Hauptschulabschluss. „Alle Schulen sortieren ihre schwierigen Schüler aus und am Ende fragt man uns: Und? Wie viele Abschlüsse habt ihr denn erreicht? Ich finde, dass wir überhaupt noch Kinder zum Abschluss führen, ist ein Wunder“, sagt Boeddinghaus. Einige Schüler machen auch den Abschluss nach Klasse 9. „Bei allen anderen haben wir trotzdem nicht versagt“, betont er. „Wir sind verlässlicher Partner dieser Kinder geworden.“

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