Schwein gehabt: Ein Tenor verleiht seine Stimme

Oper: Tenor Sergej Khomov musste kurzfristig an der Berliner Oper einspringen. Das musikalische Kommando hatte der berühmte Dirigent Daniel Barenboim.

Düsseldorf. Sergej Khomov hat die Einkaufstüten noch in der Hand, als ihn der Anruf erreicht. Eineinhalb Stunden später sitzt er im Flugzeug nach Berlin. Ein Notfall. Tenor Rolando Villazòn ist erkrankt und kann nicht singen. Sergej Khomov von der Deutschen Oper am Rhein soll ihn als Lenski in Tschaikowskys "Eugen Onegin" vertreten - ohne die Inszenierung zu kennen und ohne mit dem Ensemble geprobt zu haben. Das musikalische Kommando hat an diesem Abend Daniel Barenboim, der Superstar unter den Dirigenten, was die Aufgabe für Khomov nicht einfacher macht.

"Als ich vor der Berliner Oper stand, war mir ganz schwindelig und ich war furchtbar blass", erinnert er sich. Der Taxifahrer hatte seinen Fahrstil der Eile des Sängers angepasst und war durch die Stadt gejagt wie der Teufel.

Als Khomov aus dem Auto steigt, hat er noch 25 Minuten bis Vorstellungsbeginn. Allein 20 Minuten braucht er, um sich einen Überblick über die Inszenierung zu verschaffen. "Sie war total modern und völlig verrückt." Für ein kurzes Gespräch mit Villazòn oder dem Dirigenten bleibt keine Zeit. Auch nicht für Angst oder Lampenfieber. "Ich denke grundsätzlich nicht daran, dass etwas schief gehen könnte." Fünf Minuten singt er sich ein, dann öffnet sich der Vorhang.

Auf der Bühne steht Villazòn, der stumm die Lippen bewegt. Der Startenor beugt sich an diesem Abend einer fremden Stimme. Khomov steht in einer Ecke des Orchesters mit direktem Blick auf den Dirigenten. Noch nie hat er zuvor mit Barenboim gearbeitet. "Eine gute Position war wichtig, denn ich kannte ja seine Fassung des Stücks noch nicht."

Doch Tschaikowskys Vertonung der Verse von Alexander Puschkin webt ein unsichtbares Netz zwischen Barenboim und Khomov. Ihre Kommunikation ist unmissverständlich. "Ich hatte nicht erwartet, dass er die russische Musik so tief spürt", sagt der Sänger. Der Zustand dauert fast drei Stunden lang an. Die gesamte Oper hindurch verstehen sich die beiden blind. Khomov hat schon viel erlebt.

Er steht seit 25 Jahren auf der Bühne, hat sich auf Autofahrten eingesungen, ist kurzfristig bei einer Premiere in Lissabon eingesprungen, um dort die für Tenöre schwierige Partie in Hoffmanns Erzählungen zu übernehmen - mit zwei Stunden ununterbrochenem Gesang. "Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass mich in meinem Berufsleben noch einmal etwas überrascht."

Doch die Begegnung mit Barenboim ist ein solch besonderer Moment. "Dass man einander so gut versteht, das passiert einem nur einmal im Leben", ist Khomov überzeugt. "Wir haben beide die Energie der Musik gespürt und sie umgesetzt, ohne dass irgendetwas abgesprochen war. Das ist, wie wenn man dem nie gekannten Bruder plötzlich am Ende der Welt in die Augen schaut."

Die Aufführung am 22. Oktober 2008 wird ein großer Erfolg. Bis heute steht Khomovs Name in der Besetzungsliste. Nach der Vorstellung kommt Barenboim noch einmal zu ihm und sagt: "Wir sehen uns bestimmt nicht zum letzten Mal." Khomov lächelt. "Für solche Momente muss man leben und singen."

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