Interview „Es ist noch immer ein Beruf, den ich fast religiös liebe“

Düsseldorf · Vor mehr als 20 Jahren entschied sich Mareile Blendl, Schauspielerin zu werden. In der Coronakrise kamen ihr Zweifel.

 Mareile Blendl darf wieder spielen. Das erste Casting seit Monaten hat sie gerade absolviert.

Mareile Blendl darf wieder spielen. Das erste Casting seit Monaten hat sie gerade absolviert.

Foto: Andreas Endermann

Die Coronakrise traf Mareile Blendl gleich doppelt. Als freischaffende Schauspielerin konnte die 44-jährige Düsseldorferin plötzlich ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Als Mutter musste sie zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls Schauspieler ist, mehr nach den beiden Kindern sehen als üblich. Das jüngere durfte nicht mehr in den Kindergarten, das ältere nicht mehr in die Schule. Schwere Zeiten für eine Frau, die bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten Schauspielerin ist.

Haben Sie in den vergangenen Monaten einmal durchatmen können?

Mareile Blendl: Am Montag. Da hatte ich meinen ersten Arbeitstag in diesem Jahr. Mir war es Wurst, dass es nur ein Casting war. Allein, dass ich wusste, es gibt wieder Chancen, es steht wieder was im Raum. Allein, dass ich gespielt habe. Dass da ein anderer Kollege war.

Aber ein Kollege in sicherer Entfernung, oder?

Blendl: Wir waren angehalten, Abstand zu halten, irgendwann haben wir uns doch angefasst. Wir haben uns erinnert, wie geil Spielen ist. Was das für eine Befreiung ist, in eine andere Figur zu schlüpfen. Kurz raus aus dieser Mareile, die gerade die Coronakrise erlebt. Mein letzter Dreh war im Herbst.

Wie dünn ist das Eis, auf dem Sie stehen?

Blendl: Das hängt davon ab, ob ich noch mal richtig loslegen kann bis zum Winter. Gütersloh macht einen ja sofort nervös. Ich habe die ganze Zeit von Erspartem gelebt, dabei ist es für Schauspieler allgemein nicht leicht zu sparen. Es reicht, wenn dir das Auto kaputt geht und du brauchst zehntausend Euro für ein neues. Eigentlich geht es für viele, auch für mich, erst im Frühjahr los, weil ich im Winter kein Theater gespielt habe.

Und dann ging es nicht los.

Blendl: Jeden Tag kamen neue Hiobsbotschaften. Erst hieß es: Fünf Wochen keine Schule. Das Casting, das ich am Montag hatte, war damals das erste, das auf unbestimmt verschoben wurde. Der Film hätte schon im Juni im Kasten sein müssen. Da wurde mir klar, es wird ernst. Meine Agentin hatte eine Zeit lang nur Absagen. Für die war das wie ein Gemetzel.

Wurde überhaupt gedreht?

Blendl: Die letzten Produktionen, die noch aktiv gedreht haben, mussten einen Hilferuf über die Presse absondern: Erteilt uns Drehverbot! Denn wenn die Produktionsfirma von sich aus aufhört, ist sie pleite. Dann haben die Städte Drehverbot erteilt. Wir hatten Berufsverbot. Das war hart, weil wir durch alle Fördertöpfe gefallen sind.

Es gibt festangestellte Schauspieler beim Theater, die immerhin in Kurzarbeit gelandet sind. Sie aber gehören zu den freischaffenden Schauspielern.

Blendl: Es gibt circa 10 000 freischaffende Schauspieler in Deutschland. Das Problem: Wir kommen nicht in die Künstlersozialkasse...

...Kurz gesagt: eine staatliche Einrichtung, die für selbständige Künstler, Autoren und Journalisten wie ein Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge für Kranken- und Rentenversicherung übernimmt. Warum nicht auch für Schauspieler?

Blendl: Weil es heißt, wir seien weisungsgebunden und würden deshalb kein unternehmerisches Risiko tragen, also nicht selbständig sein. Aber wir stehen ja nicht nur da und sagen auswendig gelernten Text auf. Für uns hat man die unständige Beschäftigung erfunden. Wenn wir drehen, müssen wir Abgaben zahlen, Arbeitslosengeld, Rentenversicherung, kriegen aber sehr selten was zurück. Es reicht oft kaum für eine richtige Rente. Arbeitslosengeld ist für die wenigsten zu schaffen. Dafür müssten wir auf 180 Arbeitstage in zweieinhalb Jahren kommen. Ein gut beschäftigter Schauspieler hat 30 bis 40 Arbeitstage im Jahr.

Was sollte passieren?

Blendl: Meiner Meinung nach müsste man uns in die Künstlersozialkasse lassen und uns eine Möglichkeit geben, normal in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen.

Sie konnten also keine der diversen Hilfen in Anspruch nehmen?

Blendl: Die meisten Bundesländer haben die Schauspieler durchs Raster fallen lassen. Vermutlich nicht aus bösem Willen, sondern aus Unwissenheit.

Sie haben kürzlich gesagt: „Fies ist, dass ausgerechnet die Branche der Spaßmacher, all derer, die sich darum kümmern, dass die arbeitende Bevölkerung sich erholen kann, jetzt eine der Arschkarten gezogen hat.“

Blendl: Das war auch hart. Obwohl die Leute in den vergangenen Monaten Serien und Filme gestreamt haben, fehlte mir die Wertschätzung für den Wert der Unterhaltung. Ich habe eine Umfrage zu systemrelevanten Beruf gesehen und der irrelevanteste Beruf war Künstler. Keine Ahnung, ob das seriös war, aber ein bisschen fühlte es sich so an. Als ob die Situation eine Bestrafung dafür war, dass ich als Schauspielerin Spaß bei der Arbeit habe. Da gibt es ein Buch von Janosch über die Grille, die den ganzen Sommer für die Waldbewohner fiedelt, aber keine Körner sucht und kein Haus baut. Alle lauschen ihrer Musik, aber im Winter sagen sie zu ihr: Was geigst du auch die ganze Zeit?

Die Leistungen von Schauspielern werden ohnehin öffentlich besprochen. Lesen Sie eigentlich Kritiken?

Blendl: Ich kann es nicht lassen, ich bin zu neugierig. Aber es ist schwer, mit Kritik umzugehen. Es geht nie nur um die Darstellung, du fühlst dich auch als Mensch gemeint. Du stehst da, du hast geweint, wenn auch nicht über dein Schicksal. Aber es waren deine Tränen. Und es tut weh, wenn jemand sagt, die waren unglaubwürdig. Schauspieler haben so wenig Schutz. Wir müssen sensibel sein. Wir müssen wissen, was der Regisseur von uns will. Wir müssen wissen, wie der Mensch tickt, den wir darstellen sollen. Eine Schutzmauer stört da nur. Der Beruf ist immer öffentlich. Im Zweifel sehen dir alle beim Scheitern zu. Und du hast es selbst so gewählt.

Beutet sich ein Schauspieler selbst noch stärker aus, als dass er ausgebeutet wird?

Blendl: Ja, die Selbstausbeutung ist ein Problem. Man muss es ja auch aushalten, wenn das Telefon monatelang nicht geklingelt hat. Aber es ist noch immer ein Beruf, den ich fast religiös liebe. Ich sehe meinen Beruf als Berufung. Deshalb ist die Leidensbereitschaft in unserer Branche extrem hoch. Wenn ein Auftrag reinkommt, ist das toll. Nicht nur, dass man seine Miete zahlen kann. Auch: Ich darf spielen! Ich denke, dass Schauspieler hier eine Art Vorhut sind. Der Wert von Arbeit wird allgemein immer höher werden. Bald wird es für viele darum gehen, überhaupt Arbeit zu bekommen. Diese absolute Flexibilität, heute in Düsseldorf, gestern in Hamburg, übermorgen in München, die ständige Verfügbarkeit bei maximaler Leistungsbereitschaft – das kommt auf viele zu.

Ein Schauspieler ist froh, überhaupt einen Job zu bekommen?

Blendl: Und wir tun alles dafür. Halten uns bereit, pflegen uns. Schließlich könnte jederzeit das Telefon klingeln.

Sie dürfen nicht krank werden.

Blendl: Der Schauspieler an sich ist erst krank, wenn er im Krankenhaus liegt und Schläuche in den Armen hat.

Alles andere kann man vertuschen?

Blendl: Wird immer vertuscht. Der Schauspieler an sich spielt auch mit Grippe. Nur der Tod entschuldigt. Wenn ich früher im Theater angerufen und gesagt habe, ich bin krank, galt das als persönliche Beleidigung: „Dann hast du dich also so entschieden.“ Das ist ein Zitat. Das hat mir mal eine Chefdramaturgin gesagt, als ich mich krank gemeldet habe.

Hat Ihnen eigentlich irgendwer geholfen in den vergangenen Monaten?

Blendl: Menschen, die mich aufgrund meiner Facebook-Postings angerufen haben, um mir Geld zu schenken. „Sag Bescheid, wenn du es haben willst.“ Ich habe es nicht annehmen müssen, ich fand es aber irre, dass es das gibt. Das waren nicht mal Freunde, sondern eher Bekannte. Es hat mich bestärkt in meinem Glauben an die Liebe zu Menschen. Das ist der Motor dessen, was ich mache. Dann habe ich auch jemandem Geld angeboten, weil ich das so gut fand.

Haben Sie in der Krise darüber nachgedacht, zumindest vorübergehend einen anderen Job zu machen?

Blendl: Nein, ich hätte ja nicht mal kellnern gehen können. Aber ich habe mir zum ersten Mal wieder die Frage gestellt, ob es damals mit 18 eine gute Entscheidung war, Schauspielerin zu werden. Ob es schlau war, den Neigungen zu folgen. Aber wohin hätte ich denn mit all dem hin sollen? Im Büro wäre ich vermutlich verhaltensauffällig geworden.

Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass Schauspielern etwas in Ihnen auslöst, wie es andere Dinge nicht konnten?

Blendl: Meine Oma ist mit mir in die Oper gegangen, als ich noch winzig war. Da war plötzlich so eine kunstvolle, wunderschöne Parallelwelt, in der Dinge möglich waren, die sonst nicht möglich waren. Da wollte ich hin. Da war es schon entschieden.

Die beruflichen Entbehrungen in der Krise sind das eine, aber im Privaten ging das weiter.

Blendl: Ich frage mich, was mit der Liebe ist. Gibt es Leute, die sich gerade verlieben? Was ist mit den Leuten, die jetzt allein leben – sind die vereinsamt in ihren Wohnungen? Teenager, mein Sohn, können nicht auf Partys gehen.

Sie sind Mutter zweier Kinder. Für Familien ist die Belastung besonders groß.

Blendl: Unser Kleiner ist sechs. Der ist am Anfang depressiv geworden, weil der seine Freunde aus dem Kindergarten so vermisst hat. Der hat nicht mehr gut gegessen, wir waren beim Arzt. Nach einem Monat hatte er sich umgestellt und einen strengen Tagesablauf gesteckt, wann er welches Hörspiel hört. Er hat Fußballergebnisse niedergeschrieben.

Eine Zeitlang waren Sie zu viert zuhause, Ihre beiden Kinder und Ihr Mann, der auch Schauspieler ist.

Blendl: Wir sind dann zum Wandern in die Eifel gefahren. Das war meine Rettung.

Mussten Sie als Hauslehrerin tätig werden?

Blendl: Am Anfang war es echt chaotisch, wie sollte es auch anders sein? Die Lehrer waren ja auch nicht vorbereitet. Inhaltlich konnte ich meinem Sohn kaum helfen, aber ich musste ihn ständig antreiben: Mach jetzt Erdkunde, schick Geschichte ab! Es war unglaublich anstrengend.

Wie sehr sind Sie wieder auf die Mutterrolle zurückgefallen?

Blendl: Von der Beanspruchung total, aber ich habe mir die Aufgaben mit meinem Mann geteilt. Im Umfeld habe ich gemerkt, wie Frauen zurückgefallen sind.

Haben Sie was gelernt?

Blendl: Ich habe jetzt doch ein paar gute Sachen aus der Krise mitgenommen. Da bin ich selber überrascht. Ich bin einer Gruppe beigetreten, „Familien in der Krise“, damit das homeschooling nicht noch mal auf die Eltern abgewälzt wird. Ich habe auch einen Frauenzirkel gegründet, der heißt „Bier für Frauen“. Wir treffen uns im Park, coronatauglich, trinken Bier und unterhalten uns. Und ich bin jetzt endgültig Vegetarierin.

Sie haben vor einigen Wochen im Zusammenhang mit Ostern geschrieben: „Aber warum feiern wir? Vielleicht um die Hoffnung sichtbarer zu machen?“ Wie würde Ihre Feier jetzt aussehen?

Blendl: Ich hatte mal die Idee, alle Schauspieler auf eine einsame Insel einzuladen. Wir gehen alle weg, haben eine geile Zeit zusammen, bauen Gemüse an, setzen uns abends ans Lagerfeuer und spielen und tanzen und kehren erst zurück, wenn alle sagen: Kommt zurück, wir brauchen euch.

Warum tun Sie sich das alles an?

Blendl: Weil es der Wahnsinn ist. Weil man dann nicht nur ein Leben lebt. Sondern viele. Weil man jedes Mal in eine neue Welt abtaucht. Und wir haben doch einen tollen Grundauftrag. Um die Welt zu verstehen, imitieren Kinder, was Erwachsene tun. Sie spielen. Wir Schauspieler tun nichts anderes. Ich sehe mich da auch als Dienstleisterin. Die Dienstleistung ist Katharsis, seelische Reinigung. Das haben die Griechen erfunden. Auf der Bühne erfährt jemand eine Reinigung, indem er etwas durchleidet. Und der Zuschauer leidet mit und erfährt vielleicht was über sich selbst dabei. Das hat was Spirituelles, wenn Menschen für Menschen spielen.

Inwiefern?

Blendl: Stellen Sie sich eine Oma vor, die sich im Altersheim eine Pilcher-Schmonzette anguckt. Dem Format kann man natürlich eine gewisse dramaturgische Einfachheit unterstellen, aber da lieben und kriegen sich die Schauspieler stellvertretend für sie im Film. Und die Oma hat daran teil und erinnert sich: So schön war das mit der Liebe. Wir geben der Oma diesen Moment zurück.

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