Logopädie: Immer mehr Kinder werden therapiert

Logopäden behandeln mehr denn je — Kinderärzte verschreiben, aber zweifeln am Sinn.

Logopädie: Immer mehr Kinder werden therapiert
Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. Als Erstes darf Ferdinand heute eine Möhre schälen. Dann sticht er sie aus, mit Stern, Mond, Herz oder Dreieck. Gila Endemann legt ihm verdeckt das erste Stückchen Möhre auf die Zunge: „“Kannst du fühlen, was du da im Mund hast?“ „Den Stern“, sagt Ferdinand. Das stimmt.

Es geht hier um Logopädie, um Sprachtherapie, Ferdinand lispelt ein wenig und Frau Endemann trainiert ihn, mit der Zunge zu fühlen und Zunge und Wangenmuskel zu stärken: „Denn seine Zunge ist zu unbeweglich“, sagte sie.

Auch in Düsseldorf werden immer mehr Kinder logopädisch betreut. Fast jeder vierte Junge hat mit sechs Jahren schon eine Sprachtherapie verschrieben bekommen, bei den Mädchen sind es 18 Prozent. Meistens geht es um Sprach- und Sprechprobleme, um „phonologische Störungen“, wie das „K“, dass Kinder nicht aussprechen können und das als „T“ daherkommt. Am häufigsten ist Lispeln.

„Ob das immer behandlungsbedürftig ist, darf man bezweifeln“, sagt Kinderarzt Thomas Fischbach, verantwortlich für den Bezirk Nordrhein im Bundesverband der Kinderärzte. Viel hänge vom Alter ab: „In den meisten Fällen muss bei Kindern unter vier Jahren nicht therapiert werden“, meint Fischbach. Allerdings werde immer mehr Druck auf Eltern ausgeübt, wenn etwa Erzieherinnen ihnen dringend eine Therapie anempfehlen.

Und dann wirkt Logopädie bisweilen wie ein sich selbsterhaltendes System. Manche Therapeuten beenden nur äußerst ungern von sich aus eine Behandlung, selbst wenn das Problem gelöst ist. Fischbach formuliert das so: „Wenn Sie neue Automodelle verkaufen möchten, sagen Sie zum Kunden ja auch nicht: Eigentlich sind die alten völlig ausreichend.“

Und der Düsseltaler Kinderarzt Hermann-Josef Kahl meint: „Logopädien, aber auch Ergotherapien sind in den letzten Jahren explosionsartig angestiegen. In sehr vielen Fällen sind sie medizinisch nicht indiziert.“ Dennoch wird verschrieben, was der Rezeptblock bzw. das Budget hergibt. Denn wenn Eltern einmal verängstigt worden seien, „ist es extrem schwer, sie davon wieder zu befreien,“ erklärt Kahl.

Gila Endemann, seit 30 Jahren Logopädin, widerspricht, auch wenn sie zugibt, dass es solche Endlos-Therapierer gebe: „Aber sie sind die Ausnahme. Ich bin froh über jede abgeschlossene Behandlung, schon weil ich nur dann meine Warteliste abarbeiten kann.“ Generell würden eher zu wenige als zu viele Kinder behandelt.

„Ich plädiere auch für Therapiepausen, zum Beispiel nach dem Schuleintritt muss man die Entwicklung des Kindes einfach mal abwarten“, sagt sie. Andererseits sollten Kinder beim Schuleintritt keine Sprachauffälligkeiten haben, das belaste sie sonst zusätzlich.

Einig sind sich Pädiater und Logopäden, dass es hierzulande weniger an Sprachtherapie als an Sprachförderung mangelt. „Wir haben immer mehr Kinder mit Migrationshintergrund und/oder aus prekären Verhältnissen, denen beim Deutsch-Lernen viel besser geholfen werden muss“, sagt Fischbach. Und Gila Endemann fordert: „Im Grunde müsste jede Kita und jede Grundschule einen Logopäden haben.“

Auch Kinder, die mehrsprachig aufwachsen, benötigten oft diese Förderung — „bisweilen aber zusätzlich auch eine handfeste Sprachtherapie“, sagt Ursula Worms-Firnau, die Sprachheilbeauftragte des Gesundheitsamtes. Sie ist mit dem logopädischen Dienst des Amtes gleichsam eine neutrale Instanz. „Man muss jedes Kind sehr genau angucken und untersuchen. Und dann gibt es Richtlinien, was wann und wie therapiert werden sollte“, sagt sie (siehe Artikel unten).

Ferdinand kämpft derweil mit scharfen S-Lauten. „Wo muss die Zunge bleiben?“, fragt seine Logopädin. „Hinter den Zähnen.“ „Ja, dann sperr sie dort einfach ein.“

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