Interview „Feiern Sie Ostern ruhig nach – jeden Tag“

Düsseldorf · Interview Pastor Ulf Steidel, Leiter der Telefonseelsorge, spricht über Einsamkeit an den Feiertagen und gibt Ratschläge, was man gegen sie unternehmen kann.

 Pastor Ulf Steidel ist Leiter der Telefonseelsorge.

Pastor Ulf Steidel ist Leiter der Telefonseelsorge.

Foto: Steidel

In diesem Jahr ist Ostern anders. Viele Familienbesuche fallen aus. Was bedeutet das für die Menschen?

Ulf Steidel: Mit dem Frühling und dem Osterfest beginnt natürlich in besonderer Weise die gesellige Zeit – und wir ziehen in der Regel von drinnen nach draußen. Das wird in diesem Jahr definitiv anders. Auch wenn wir jetzt bereits auf einige Wochen der Übung zurückblicken können, bedeutet die Vorgabe Abstand zu wahren eine echte Anpassungsleistung, die als mehr oder weniger großer Stress erlebt wird. Gerade die Geselligen und Umtriebigen unter uns erleben gerade eine Art „psychischen Jetlag“, ganz zu schweigen von denen, die von jetzt auf gleich mit handfesten, wirtschaftlichen Folgen der Krise zu tun bekommen. Grundsätzlich bin ich zurückhaltend von der einen Bedeutung der Covid 19-Pandemie für alle zu sprechen. Das Phänomen ist schillernd und hält für uns in unseren unterschiedlichen Rollen verschiedene Herausforderungen bereit.

Betroffen sind besonders Senioren, die soziale Kontakte meiden sollen. Was kann man tun, damit sich die Großeltern nicht einsam fühlen?

Steidel: Auch hier bin ich zurückhaltend, eine Altersgruppe und Kohorte als besonders hilfsbedürftig zu beschreiben. Andersherum erlebe ich gerade unter denen, die der Krieg und seine Auswirkungen einen Strich durch die Lebensplanungen gemacht hat, eine Kompetenz, mit Widrigkeiten und Situationen von Mangel umzugehen. So ist eventuell die aktuelle Krise für uns folgende „Vollkasko-Generation(en)“ ein unvorhergesehener Anlass, mit unseren Eltern und Großeltern darüber noch einmal ins Gespräch zu kommen und von deren Haltung und Kreativität zu lernen. Das ginge übrigens ganz „old school“ über das Telefon oder mit einem Brief. Eine „Gegenleistung“ könnte sein, den Großeltern zu zeigen, wie man ganz vergnüglich „Stadt, Land, Fluss“ über Skype spielt, oder von mir aus auch „Quizduell“ über das Smart-Phone. Aber auch hier: Vorsicht vor dem (aktuellen) Allgemeinwissen der Altvorderen! Eine letzte Variation zum Thema Covid 19 und Senioren: Besonders kritisch ist gegenwärtig – mehr noch als sonst – das Leben im Alter in den Pflegeeinrichtungen. Hier wünschte ich mir – auch über die Krise hinaus – Engagement und Kreativität, die dort lebenden und arbeitenden Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. Das momentane Osterwetter lässt es wohl zu, mit kleinen „Outdoor-Stegreif-Konzerten“ vor deren Türen, Fenstern und Balkonen ein Zeichen der Solidarität zu setzen.

Wie bereitet sich die Telefonseelsorge auf die Feiertage vor?

Steidel: Tatsächlich haben wir versucht, unsere Erreichbarkeit zu optimieren. So sind in der Region „Rhein-Wupper“ mit den Stellen Neuss, Düsseldorf, Solingen und Wuppertal rund um die Uhr, Tag und Nacht, vier bis sechs Leitungen geschaltet. Dort haben qualifizierte ehrenamtliche Seelsorger und Seelsorgerinnen ein feines Ohr für das, was die Anrufenden beschäftigt und besorgt. Das reicht von leichtem Unbehagen durch unfreiwillige Langeweile bis hin zu Lebensmüdigkeit angesichts einer dauerhaften oder akuten Krise. Gerade auch über die Online-Seelsorge via Mail und Chat haben wir verstärkt mit dem Ursprungsthema der Telefonseelsorge zu tun: der Suizidverhütung. Kurz vor Zuspitzung der Corona-Krise haben wir zu diesem Thema eine App gestartet unter dem Stichwort „Krisenkompass“. Nur nebenbei: Nicht der November ist der Monat mit vermehrten Selbsttötungen, sondern das Frühjahr und der Frühsommer. Gefreut hat mich in den letzten Tagen, dass zahlreiche Mitbürger und Mitbürgerinnen mit passender Qualifikation auf uns zugekommen sind, um spontan zu unterstützen und mitzuhelfen. Das ist nicht gleich möglich und nötig und dennoch ein mutmachendes Zeichen von Gemeinsinn. Den beobachte ich in diesen Tagen an vielen Stellen. Hier hoffe ich, dass uns dies über Covid 19 hinaus erhalten bleibt. Das wäre wichtig und täte unserer demokratischen Gesellschaft gut.

Haben sich seit Beginn des Kontaktverbotes schon Menschen gemeldet, die unter Einsamkeit leiden? Wie können Sie hier helfen?

Steidel: Momentan gibt es kaum Gespräche mit uns, in denen Covid 19 nicht die Überschrift bildete – wie auch in Alltagsgesprächen. Die Anliegen dahinter sind durchaus verschieden: Sorgen und Ängste teilen, Klagen dürfen, gehalten und ausgehalten werden, für einen Moment nicht alleine sein. Das ist grundsätzlich die Kunst des Zuhörens in der Telefonseelsorge: Hinter dem Thema das Anliegen und den Auftrag heraushören. Gelingt das nicht, wird daraus keine gute Begegnung und der Kontakt wird nicht als hilfreich erlebt. Darüber hinaus ist wichtig, dass wir uns selbst nur als ein Mosaikstein im Hilfesystem verstehen und auf ergänzende Angebote hinweisen. So hat unter anderem „evangelisch Düsseldorf“ mit der Diakonie Düsseldorf aktuell eine zusätzliche Aktion ins Leben gerufen. Unter der Überschrift: „Wir hören zu“ stehen neben der 0800-1110111 weitere Rufnummern zur Verfügung: 0211-957-575757. Die Idee dahinter: Die Kunst des guten Zuhörens gehört an viele gesellschaftliche Orte, nicht nur in wenige spezialisierte Hotlines.

Was kann ich selbst für mich tun, wenn ich mich einsam fühle?

Steidel: „Allein sein“ muss nicht per se als Bedrohung erlebt werden. Es gibt auch positive und wünschenswerte Aspekte im Rückzug, in der Verlangsamung, in der Ruhe. Etwas davon scheint in diesen Tagen unfreiwilliger Ausbremsung auf: das reaktivierte Hobby, das wiederentdeckte immer noch ungelesene Buch, diese oder jene aufzuräumende Ecke – tatsächlich oder im übertragenen Sinn. Andersherum kennen wir unter dem Phänomen „alone in the crowd“ Formen von Einsamkeit bei Menschen, die durchaus eingebunden sind in ihren Familien oder ihrem Beruf, und dennoch mit für sie lebenswichtigen Themen kein Gehör finden, sei es aus Rücksicht, Scham oder Anpassungsdruck. Hier gilt unbedingt die Empfehlung, damit nicht allein zu bleiben. Wer das aussitzt, riskiert am Ende einen Schaden an seiner Psyche und Seele.

Kann man Ostern nicht einfach nachfeiern? Wäre das eine Hilfe?

Steidel: Die gewohnte Art Ostern zu feiern, fällt 2020 definitiv aus. Das ist bedauerlich und zu betrauern und wird uns rückblickend Erzählstoff liefern: „Weißt du noch – damals April 2020...“ Das heißt allerdings nicht, dass wir in diesen Tagen nicht reichlich „Österliches“ erleben werden können. Und damit meine ich jetzt nicht exklusiv all die kirchlichen Online-Gottesdienste, die aus dem Stand realisiert und virtuelle Gemeinschaft herstellen werden. Vielmehr meine ich aller Orten Menschen und Initiativen, die trotzig, kreativ und beharrlich der Bedrohung Zuversicht abringen, dem kurzatmigen Egoismus tatkräftigen Gemeinsinn, kurz und theologisch: der Verzweiflung und dem Trübsinn von Karfreitag, die unzerstörbare Hoffnung von Ostern. Das sollte zu keinem Kalenderjahr das Programm weniger Ostertage sein, sondern uns immerzu erinnern an die immer mögliche, alltägliche „Auferstehung ins Leben“. So gesehen: Feiern sie Ostern ruhig nach – jeden Tag.

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