Theatershow um 180 Tote

Tumulte um Jelineks „Rechnitz (Würgeengel)“ in Düsseldorf.

Düsseldorf. Stolz wollen wir sein. Stolz auf die Sünden. Sie bereuen, für sie büßen und sie niemals vergessen - so schreibt es Elfriede Jelinek. Doch bitte mit angemessenem Abstand. Mit dem Abstand eines Historikers, der auf die Geschichte blickt.

Mit dem Abstand der Nachgeborenen, die nicht müde werden, die Taten in Büchern zu verschlingen - tonnenweise Altpapier. Alppapier, wie die Autorin in "Rechnitz (Würgeengel)" formuliert. Bücher, die an diesem Theaterabend im Düsseldorfer Central wie Bomben von der Decke fallen. Eine Inszenierung, die für Jelineks maßlose und obszöne Sprache die richtigen Bilder findet.

Jelinek zerschlägt den Abstand zu den Gräueltaten der Nazis. Sie verbindet in einem Satz Zwangsarbeiter von einst mit Schwarzarbeitern von heute, das in der Schweiz geparkte Geld der Täter von 1945 mit Banken, die heute blutbeschmutzte Euros schützen.

Ihre Wortgeschütze zielen auf die Ereignisse von Rechnitz, einem Dorf an der österreichischen Grenze zu Ungarn. Dort feierte die örtliche Gräfin, eine Thyssen-Enkelin, im März 1945 mit NSDAP-Mitgliedern. Spät abends wurden Waffen verteilt. Die Gesellschaft erschoss 180 jüdische Zwangsarbeiter und kehrte zur Feier zurück. Die Gräfin floh am nächsten Morgen in die Schweiz, wo sie bis zu ihrem Tod in der Thyssen-Villa wohnte.

Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer bringt Jelineks Wortkaskaden mit schnellem Tempo und bösem Witz auf die Bühne. Acht Boten berichten - von damals, von heute, von Deutschen, von Österreichern.

Immer wieder fällt die unsichtbare Wand zwischen Darstellern und Publikum. Das Licht geht an, jeder im Raum gehört dazu. "Wie war das damals unter Gründgens?" fragt Miguel Abrantes Ostrowski Marianne Hoika, langjähriges Ensemblemitglied in Düsseldorf. "Na, so alt bin ich auch nicht", antwortet sie. "Und Sie?" Die Frage richtet sich an alle. Der wohlige Abstand zum Geschehen verschwindet. Die acht stimmen die Nationalhymne an, einige Zuschauer summen mit.

Es gibt keine Chronologie, die Szenen illustrieren den Text, schaffen einen guten Zugang. Bei manchem Kalauer bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Beim Kinderlied der Zwerge, das beim Leichenschmaus in der Grube endet, vermittelt sich das Grauen. Und steigert sich ins Perverse, wenn "der Kannibale von Rotenburg" mit seinem Opfer telefoniert. Für viele ist das zu viel.

Der Applaus bei der Premiere bleibt verhalten, Buh-Rufe gibt es für den Regisseur und wohl auch für die Dichterin. Bei der zweiten Aufführung am Sonntag gab es Tumulte, etwa 40 Besucher verließen vorzeitig die Aufführung. Das Schauspielhaus gibt nun künftig 30 Minuten vor Beginn eine Einführung in das Stück.

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