Gastspiel Buchbinder: Wieso es viel Beethoven, aber keinen Dirigenten braucht

Düsseldorf · Der österreichische Pianist Rudolf Buchbinder spielte an zwei Abenden mit den Wiener Symphonikern sämtliche Klavierkonzerte Beethovens in der Tonhalle. Was dieses Ereignis so außergewöhnlich machte.

 Rudolf Buchbinder und die Wiener Symphoniker spielten an zwei Abenden sämtliche Klavierkonzerte Beethovens in der Tonhalle. Der Pianist leitete das Orchester selbst.

Rudolf Buchbinder und die Wiener Symphoniker spielten an zwei Abenden sämtliche Klavierkonzerte Beethovens in der Tonhalle. Der Pianist leitete das Orchester selbst.

Foto: Susanne Diesner

Rudolf Buchbinders Besuch mit den Wiener Symphonikern – auf Einladung von Heinersdorff – in der Tonhalle war in vielerlei Hinsicht für Düsseldorf etwas Extraordinäres. Da wäre Buchbinder selbst, der als Koryphäe in seinem Fach als Interpret von Beethovens Werken gilt, und natürlich das Beethoven Jahr. Da wäre der Umstand, dass Buchbinder gleich an zwei Abenden hintereinander in der Tonhalle konzertierte und dies mit Werken nur eines Komponisten – Beethoven. Und da wäre, dass sämtliche Klavierkonzerte Beethovens erklangen vom ersten bis zum fünften. Da wäre die herausragende Qualität des Wiener Orchesters und, dass es von Buchbinder selbst geleitet wurde, also ohne einen zusätzlichen Dirigenten spielte.

Dass nun Ludwig van Beethoven vor 250 Jahren geboren wurde – es ist eigentlich völlig gleich. Seine Musik hat vorgestern, gestern, heute und wird auch übermorgen – so lange es unsere Kultur irgendwie noch gibt – für beseelte Momente im Leben vieler Menschen sorgen. Dennoch kann dieses Datum, was auch wegen der zeitlichen Dimension eigentlich für uns nur noch eine Zahl ist – immerhin liegt die Geburt Ludwigs in Bonn schon lange hinter dem mehrschichtigen Schleier der Geschichte –, ein schöner Anstoß für Dinge sein. Also auch ein schöner äußerer Anlass für besondere Erlebnisse rund um den Komponisten und seine Werke.

Die Konzerte waren aus mehreren Gründen herausragend

Aber was macht dieses Extraordinäre, was eingangs Erwähnung fand, nun genau aus? Wieso ist der Pianist Buchbinder so ein herausragender Beethoven-Interpret? Was macht es so besonders, wenn ein Orchester wie die Wiener Symphoniker ohne eigentlichen Dirigenten spielen? Und ist es nicht ein bisschen fad, nur Klavierkonzerte von Beethoven zu spielen?

Nun, Beethoven kann eigentlich niemals fad sein. Seine Musik sprüht vor Energien, die aus dem eigentlich so formalistischen Stil seiner Zeit, der schlussendlich mit sehr vielen Konventionen und Regeln aufgeladen war, immer mit einer großen Freude am musikalischen Witz herausbrechen. Ja, Freude und Witz – zwei Begriffe, die man vielleicht nicht unbedingt mit dem auf den späteren Porträts immer etwas grimmig hereinblickenden Wahlwiener verbindet. Und eben jenen Witz weiß der Österreicher Buchbinder mit seiner mühelos legeren Technik mit glänzendem aber farbenreich variierendem Klavierton herauszuschälen.

Gibt es zwar auch diesen typischen in Beethovens Werk mehr und mehr herausbrechenden Kampf, den Trotz, der sich in affirmativem Aufbäumen gegen die Widrigkeiten zeigt. Jenen Trotz finden wir in den frühen Klavierkonzerten als Episode, in den späteren umrahmt von himmlischem Trost auch als ostinates Reiten auf der großen Welle. Und dennoch finden wir in den funkensprühenden Höhen – die Buchbinder besonders raffiniert zum Glänzen bringt, ohne jemals oberflächlich virtuos zu sein – immer wieder Abstürze ins Melancholische. Trotz aller Verführungen in der Musik des schwerhörigen und zunehmend an seinen Krankheiten leidenden Mannes, immer nur Bezüge zu seinem Leben zu suchen, stehen seine Werke, auch ohne inhärenten Bezug zu seiner Biografie, für sich. Dort finden sich Melodien voller Anmut, voller Lebenskraft, die meisterlich ausgearbeitet werden. Stück für Stück, immer aufs Neue.

Dass wir seine Musik so mitreißend und auch mal aufwühlend finden, hat seine Ursache nicht nur im genialen Erfindungsreichtum des Schöpfers dieser Noten, sondern auch in harter Arbeit, der Ausarbeitung, der Konstruktion von den so mannigfaltigen Zusammenhängen in seiner Musik. Diese spielt mit einer scheinbar unbeschwerten Leichtigkeit mit den musikalischen Normen seiner Zeit, stößt sie mit großer Geste um, um dann doch dem Publikum eine fein zubereitete Mehlspeise vor die Nase zu halten. Buchbinder gewährte an beiden Abenden sowohl einem absolut natürlich anmutenden Formbewusstsein als auch dem feinen Detail Raum; doch ohne irgendwie in den Verdacht zu geraten, Beethovens Musik mit irgendeiner eigens angemischten Zuckersoße übertünchen zu wollen.

Viel mehr zählt an vorderster Stelle die Mischung aus Teilstück und großem Bogen. Der Dialog, das Zusammenkommen mit dem Orchester, sich dagegen stellen, miteinander spielen, miteinander diskutieren und schließlich sich gemeinsam in schönste Momente emporschwingen. Wenn etwa Beethoven ein Gespräch zwischen Orchester und Pianist führen lässt, Fragen stellt und diese mit leidenschaftlichen unerwarteten Antworten erwidert, wie beispielsweise im vierten Klavierkonzert.

Wiener Symphoniker spielen wie ein lebendiger Organismus

Also langweilig war es weder am ersten Abend, an dem das Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 19, gefolgt vom vierten in G-Dur op. 58 und dem dritten in c-Moll op. 37 erklang. Noch beim zweiten Abend mit dem ersten C-Dur op. 15 und dem letzten Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur op. 73. Es ist sogar besonders reizvoll, gleich mehrere Klavierkonzerte aus verschiedenen Lebens- und Kompositionsphasen Beethovens zu hören.

Doch wir haben versprochen, noch über weitere Besonderheiten dieses Konzertes zu sprechen. Nun, das mit dem Orchester ohne Dirigenten. Buchbinder leitete die Wiener Symphoniker in den Phasen, in denen er nicht selbst spielen musste, mit ökonomischen Bewegungen, natürlich ohne Taktstock. Doch die Symphoniker brauchen eigentlich keinen Dirigenten. Dies gilt im Grunde für jedes gute Sinfonieorchester, doch kann das gezeitigte Ergebnis je nach Beschaffenheit des Orchesters durchaus variieren. Die Symphoniker, geschult durch ihre bunte und rege Tätigkeit als, neben dem Sonderfall der Philharmoniker, das Wiener Sinfonieorchester, sind – auch wenn diese Einschätzung etwas abgegriffen sein mag – ein perfekt funktionierender Organismus.

Der Autor dieser Zeilen hat selbst – es ist schon sehr lang her – bei einem Gastspiel der Symphoniker bei einer Probe zuhören dürfen. Es kam zu einem spontanen Moment. Bevor der Dirigent um die Ecke kam, um die Probe zu leiten, entschloss man sich schon mal „a bisserl“ zu spielen, ohne ihn. Einen so lebendigen, so organisch atmenden und vor allem freien Klang hatte man nur selten gehört. Vergleichbar mit Kammermusik, bei der es auch keinen Dirigenten braucht, sondern nur hervorragende Musiker, die aufeinander hören, die einfach wissen und ahnen – es hat fast etwas Magisches – wann welcher Augenblick in der Musik stattzufinden hat.

Mit Buchbinder und den Symphonikern in der Tonhalle war diese Freiheit, diese nicht immer perfekte, aber umso musikalischere Lebendigkeit, zu vernehmen. Was manche als Makel sehen würden, dass einige Stellen nicht scharf gezeichnet sind, wie mit dem Lineal gezogen, sondern freihändig luftig, als ob Picasso eine aus der Bewegung herauswachsende Form zeichnet, ist eine Qualität. Der Klang wird interessanter, aufregender. Und gerade, wofür man eigentlich vermutet, dass es nun wirklich einen Dirigenten bräuchte, die hochsensiblen feinen, hauchdünn zerbrechlichen Stellen konnten die Wiener mit Buchbinder derart betörend zum Leben erwecken, dass so mancher Gänsehaut bekommen haben dürfte.

Wenn man weiß, dass Buchbinder schon zahllose Male Beethovens Klavierkonzerte gespielt hat, drängen sich vielleicht bei missmutigen Rezipienten Vermutungen von zu viel Routine, von einem Übermaß an legerer Sicherheit auf. Die Tempi stimmen wie im Schlaf, die Akzente natürlich auch, sowohl Dynamik und Phrasierung. Um bei unserem zuvor eingeführten Vergleich mit der Malerei zu bleiben, man würde auch einem Künstler nicht zu viel Routine vorwerfen, wenn er schon zig Mal ein Porträt gezeichnet hätte. Es ist immer wieder ein Versuch aufs Neue.

Die Verfassung des Interpreten beeinflusst immer auch sein Spiel

Jedes Konzert ist anders, das Publikum hat eine Aura, die man auf dem Podium als Musiker sehr wohl spüren kann. Die Musiker selbst haben solche und solche Tage; der innere Zustand hat durchaus viel Einfluss auf das musikalische Ergebnis, das immer auch durch die Psyche der Interpreten fließt. Wenngleich Buchbinder manchmal so aussehen mag, als ob er selbst die schwierigsten Passagen aus dem Ärmel schüttelt, er ist immer mit vollendeter Kultur im Moment. Auch wenn er Dinge geschehen lässt, weil sie nun mal geschehen müssen. Nicht seinetwillen, sondern weil der Moment es so will.

Das wohl berühmteste und künstlerisch herausforderndste fünfte Klavierkonzert Beethovens, das große Finale dieses „Marathons“, war schließlich der Lackmustest. Und gab die Antwort, warum Buchbinder ein so großartiger Beethoven-Interpret ist: Weil er Beethovens Musik sehr gut kennt und einfach Musik macht, nicht mehr und nicht weniger will. Weil er trotz kompromissloser Technik, nichts verschleiert und das Menschliche in dieser Musik nicht durch fehlgeleitete Perfektionssucht in einen makellosen Monolithen verwandeln will. Lechzt es einem danach, muss man in den Zentralfriedhof. Will man Beethovens lebendiges Erbe erspüren, sollte man sich an Interpreten wie Buchbinder halten – dafür braucht es keinen Dirigenten.

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