Musik Bernsteins Messe als Musical-Show

Düsseldorf · Ein Gottesdienst, der aus den Fugen gerät: Die Tonhalle ehrt den legendären US-Komponisten mit seiner „Mass“. 

Erinnerte an ein schrilles Happening aus der Flower-Power-Zeit oder an eine Musical-Party im Namen des Friedens: Leonard Bernsteins „Mass“ in der Tonhalle.

Erinnerte an ein schrilles Happening aus der Flower-Power-Zeit oder an eine Musical-Party im Namen des Friedens: Leonard Bernsteins „Mass“ in der Tonhalle.

Foto: Jan Roloff

Ein Priester kniet nieder, ruft zum Gebet auf. Am Ende liegt er verzweifelt winselnd und röchelnd auf dem Boden. Seine Gemeinde, in Gestalt von flockigen Musical-Sängern und Kinderchören, wiegen sich indes und klatschen im Rhythmus, stürmen die Orchester-Bühne und mischen sich unter die Symphoniker. Letztere haben Vergnügen daran und machen mit. Ein wahres Tohuwabohu entsteht im vorletzten Satz „Fraction“, das Leonard Bernstein sicherlich gefallen hätte. Sein 100. Wiegenfest und den 200. Geburtstag des Musikvereins feiert Düsseldorf mit seiner „Mass“. Und zwar beim letzten „Sternzeichen“-Konzert des Kalenderjahres. Die ausgelassene Freude mit Pfeifen und Johlen in der Tonhalle nach dem ersten Durchlauf am Freitag erinnerte weniger an ein feierliches Hochamt oder eine Heilige Messe denn an ein schrilles Happening aus der Flower-Power-Zeit. Mehr noch: an eine Musical-Party im Namen des Friedens.

Denn das Auftragswerk von Jacqueline Kennedy-Onassis, der Witwe des 1963 ermordeten US-Präsidenten John F. Kennedy, entstand 1971. Mitten im Vietnam-Krieg, in einer Zeit, als Frauen- und Umwelt-Bewegungen begannen. In den Jahren des Nixon-Rassismus und des Watergate-Skandals wich bei vielen Künstlern die Gesellschafts-Utopie und führte sie in Opposition zum etablierten Amerika. So auch Bernstein, der in seiner „Mass“ mit falschen Glaubensgewissheiten abrechnete.

Dem Opus, das er 1971 zur Eröffnung des „John F. Kennedy Center for performing Arts“ in Washington aus der Taufe hob, liegt keine chronologische Erzählung zu Grunde. Bernsteins „Theaterstück für Sänger, Instrumentalisten und Tänzer“ orientiert sich zwar an der Liturgie der römischen Messe, wird aber durchmischt mit aktuellen, gesellschafts- und kirchenkritischen Texten von Bernstein selbst und Stephen Schwarz.

Es geht um einen „Celebranten“ oder Priester (Jubilant Sykes). Er will eine Messe durchführen, wird aber immer wieder aufgehalten von Chor (Musikverein), Jugendchor (der Akademie für Chor und Musiktheater) und einem Street-Chorus (ein Projekt-Chor aus Musiktheater-Solisten). Glaubenssätzen und dem Vaterunser stellen diese Chöre ihre banalen Alltags-Erfahrungen gegenüber. Dieser Kontrast aus biblischer und trivialer Sprache lässt eigentlich kein Happy End zu. Umso erstaunlicher, dass nach dem Zusammenbruch des Celebranten („Things get broken“) ein Knabensopran (hier: Elise Kliesow von der Düsseldorfer Akademie für Chor und Musiktheater in unschuldweißem Dress und mit glockenreinem, schwebendem Sopran) eine Lobpreisung Gottes anstimmt. Der beinah kitschige Romantik-Sound wirkt so, als ob vorher alles nur ein dummer Klassenzimmer-Streich gewesen wäre. Sicherlich eines der Rätsel dieser schrägen Anti-Messe mit flottem, frechen „Agnus Dei“.

Dass das muntere Treiben nicht auseinanderfällt, sondern auch nach der Stürmung der Bühne-Bastion wieder in geordnete Bahnen läuft – dafür sorgt Regisseurin Suzanne Frey. Einzige Requisiten: üppig sprießende Kunst-Blumen-Pracht, die vom Bühnen-Vordach hinunter wächst und eine knorrige Baumskulptur mitten im Parkett (Dekor: Peter Sommerer).

Und musikalisch? Nun ja. Die verwegene Mischung aus Bernstein typischem Musical-Gesang und „West-Side-Story“-Sound, aus romantisch symphonischen Passagen und Gospel, Jazz und Soul, aus Schauspiel, Oper und Gottesdienst, ist eine Herausforderung für alle. Für Symphoniker, Musikverein, Street- und Jugendchor, die alle eine zündende Show hinlegen. Dirigent John Axelrod gelingt das für einen „normalen“ Konzertbetrieb Unmögliche möglich zu machen. Er hat alle Spieler, Sänger und Musiker im Visier und lässt die Symphoniker an manchen Stellen sogar richtig schön aufblühen. Was nach knapp zwei Stunden im Kopf hängen bleibt? Kaum eine Melodie, kaum eine musikalisch aufregende Phrase. Dafür aber viel Gefühl und Verunsicherung über eine Kultur oder gar unsere Welt, die im locker soften Musical-Rhythmus aus den Fugen geraten kann.

Info: Leonard Bernsteins „Mass“ heute noch einmal: 20 Uhr Tonhalle. Tickets: Tel 899 6123,

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