Kolumne Hommage an die heimliche Königsallee

Düsseldorf · Warum die Karolingerstraße in Bilk die schönste Straße der Stadt und mit der Düssel in der Mitte das perfekte Symbol für Düsseldorf und gegen Düsseldorf-Klischees ist. Eine Liebeserklärung.

 Die Karolingerstraße 1918: Diese Aufnahme zeigt den Blick auf die Ecke zur Planetenstraße. In dem Eckhaus ist heute das Geschäft „Schöne Kleider“.

Die Karolingerstraße 1918: Diese Aufnahme zeigt den Blick auf die Ecke zur Planetenstraße. In dem Eckhaus ist heute das Geschäft „Schöne Kleider“.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

Diese Kolumne ist eine Allee-Kolumne, doch um die üblichen Allee-Verdächtigen macht sie einen großen Bogen: Vergesst die Berliner Allee, vergesst die Heinrich-Heine-Allee, vergesst die Königsallee. Heute steht eine Allee im Mittelpunkt, die – Achtung, steile These – mehr als jede andere Straße der Stadt für Düsseldorf steht. Ja, du bist gemeint, liebe Karolingerstraße! Das hättest du nicht erwartet? Verständlich: Anders als jene Alleen, die das Allee-Sein im Namen tragen, bist du außerhalb Düsseldorfs kaum bekannt. Und wenn doch mal Wochenendtouristen auf dir entlang spazieren, dann wohl eher aus Zufall oder weil sie in einem Hotel in der Nähe abgestiegen sind. Ausnahmen bestätigen die Regel: Erinnerst du dich an das berucksackte japanische Mittfünfziger-Paar, das hier vergangene Woche unzählige Fotos von den bis zu zwei Meter dicken Platanen und den prachtvollen Altbauten gemacht hat?

Ja, ich gebe es zu: Auch wenn ich woanders wohne, besuche ich dich so oft wie möglich, und es ist nicht auszuschließen, dass dieser Text auf eine Liebeserklärung hinausläuft. Nein, keine Sorge: Ich möchte nicht, dass du zur Touristenattraktion „aufsteigst“. Ich möchte bloß eine kleine Tour zu deinen Ehren unternehmen: von der Ecke Bachstraße bis zum Karolingerplatz – auf der einen Straßenseite hoch, auf der anderen zurück. Zwei Mal 920 Karolingerstraßen-Meter, die Düssel in der Mitte. Dabei: Altes erinnern, Neues entdecken, sich vielleicht sogar überraschen lassen. Schlendernd, flanierend, spazierend. Ohne Alltagseile, mit allen Sinnen. Skurriler Bonus: Mein bester Freund P., der mich mal wieder begleitet, hat versprochen, im Laufe der kommenden Stunde das „Karolingerstraßen-Geheimnis“ seiner Jugend zu lüften. Das wird vermutlich weniger spektakulär, als es sich anhört, aber ein kleines Bisschen gespannt bin ich schon.

Vorerst scheint mein Begleiter von dieser Kolumne noch nicht ganz so überzeugt zu sein. Während wir vor dem Friseurladen Cut Corner an der Ecke Karolingerstraße/Bachstraße in den „Startlöchern“ stehen, gibt er den Motzki: „Was für eine bescheuerte Idee, eine Straße persönlich anzusprechen!“ Das sei genauso bescheuert, wie einen öffentlichen Brief an ein Geschäft, ein Viertel, eine Stadt oder ein Haustier zu schreiben. „Pseudo-origineller Journalisten-Quatsch, total für die Katz!“

Wohlgemerkt: Das sagt ein katzenhassender Creative Director, der sich für seine Agentur schon mal Katzenfutter-Kampagnen mit sprechenden Katzen ausgedacht hat (O-Ton P: „Ausdenken musste!“). Seinen blinden Hund Manolo hat mein werbetextender Freund P. heute übrigens auch dabei. Der spricht nicht, wedelt freundlich, verwöhnt seine Riechzellen mit Karolingerstraßen-Aroma. Ach ja: Bevor wir das Schaufenster des Hauses Nr. 1 rechts liegen lassen, sollten wir noch erwähnen, dass es sich um keinen „normalen“ Friseurladen, sondern um einen „Hairsalon & Barbershop“ im Retro-Look handelt, der besonders in der Rockabilly-Szene einen Namen hat.

„Wenn das kein guter Start ist“, sage ich. „Oder kennst du eine andere Allee in Düsseldorf, die einen Rock’n’Roll-Friseur zu bieten hat?“

„Na ja“, sagt mein bester Freund P., der gerne das letzte Wort hat und seinen Vollbart bald wieder trimmen lassen sollte.

Wir spazieren in eine sanfte Kurve, gelangen – vorbei an einem Yoga-Studio – zur Düssel. Der bekannteste unbekannte Fluss Deutschlands plätschert uns so flach wie keck entgegen, bevor er an der Ecke Planetenstraße in einem Tunnel verschwindet. Dem Stadtplan zufolge macht die Düssel an dieser Stelle einen scharfen Knick, und eigentlich müsste sie genau unter dem Atelier für maßgeschneiderte Braut- und Abendkleider im Eckhaus Planetenstraße 1 verlaufen.

Mein bester Freund P., der Backsteinbauten ebenso liebt wie die Zwanziger-Jahre, gerät ins Schwärmen: Die an dieser Stelle dominierenden Genossenschaftsbauten seien 1927 und 1928 für den Arbeiterverein „Freiheit“ errichtet worden. „Ein Architektur-Highlight und aus gutem Grund denkmalgeschützt!“

Vor einem der Häuser stoßen wir am Straßenrand auf den im Sommer neu aufgestellten Fahrradständer in Form eines stilisierten Fahrrads. Mein so fahrradfreundlicher wie ideologiekritischer Freund, der die Stadt bevorzugt mit dem Rennrad durchkreuzt, redet sich schon wieder in Rage: „Alter, wer ist bloß auf die Idee gekommen, ausgerechnet an dieser Straße so ein Ding aufzustellen – ich könnte dir ein Dutzend Standorte nennen, wo man schwer bis gar nicht Laternen, Pöller oder Bäume zum Anschließen findet. Aber hier?!“ Tatsächlich ist von den acht Rad-Stellplätzen an diesem Mittag nur einer belegt. Die Anwohner, die ihr Fahrrad nachts draußen lassen, parken offenbar nach wie vor an den mintgrünen Düssel-Ufer-Geländern. Eine seit Generationen im wahrsten Sinne des Wortes eingefahrene Gewohnheit – verlassene Schlösser und die eine oder andere ausgeweidete Fahrradleiche inklusive. Urban, praktisch, gut. Ein Fahrradparker-Paradies. „Fehlt nur noch, dass ein realitätsferner Bürokrat auf die Idee kommt, das Anschließen der Räder ans Geländer zu verbieten“, ereifert sich P.

Auf Höhe der Henriettenstraße beobachten wir von der Düssel-Brücke aus, wie ein Enten-Pärchen sich am wildesten, da einzigem Wasserfall Bilks vergnügt. Und dann erinnern wir uns an das Thema, das dich, liebe Karolingerstraße, 2016 mehr in die Presse gebracht hat als jemals zuvor (Den ominösen Doppelmord im Haus Nr. 86 aus dem gleichen Jahr lassen wir mal außen vor): Wir betrachten die neuen Sicherheitsgitter, die zwischen die alten Querstreben montiert worden sind.

„Gut, dass die Stadt damals für lückenlose Brücken-Sicherheit gesorgt hat“, sagt mein bester Freund P. und setzt ein bitterböses Gesicht auf. „Im Vergleich zu dem neuen Fahrradständer war das absolut nötig.“

„Stimmt“, entgegne ich. „Jede Woche ein Passant oder gar Selbstmörder, der hier von einer der Brücken in die Tiefe stürzt beziehungsweise springt – das konnte man den Anwohnern nicht länger zumuten.“

„Und wer den Aufprall überlebte, ist sofort von den reißenden Fluten der Düssel mitgerissen worden und ertrunken“, sagt P. „Tragisch!“

„Eigentlich müsste man die Geländer auf mindestens zwei Meter erhöhen, dann wäre es hier noch sicherer“, sage ich.

Und dann beenden wir unser Ironie-Ping-Pong mit einer Erkenntnis, die wir in ähnlicher Form schon öfter gehört haben: Wer entschieden hat, ausgerechnet hier eine Bundesvorschrift umzusetzen, nach der an „Brückenbauwerken“ zwischen den einzelnen Elementen höchstens zwölf Zentimeter Platz sein dürfen, mag zwar ein herzloser Technokrat sein. Aber: Nachdem die Gitter im gleichen dunkelrot wie der Rest angestrichen worden sind, stören sie zumindest optisch nicht mehr allzu sehr.

Wir spazieren an der Trattoria Gallo Nero an der Ecke Binterimstraße vorbei, und mein seriensüchtiger Begleiter (siehe Folge Nr. 5 der Kolumne: „Düsseldorf als Netflix-Tatort“) bewundert die historische „Doppel-Laterne“ auf der Düssel-Brücke vor dem Lokal: „Die hätte man auch am Set von Babylon Berlin aufstellen können.“

Ein paar Meter weiter könnten wir uns in den beiden Ladenlokalen an der Ecke Aachener Straße entweder (erneut) die Haare schneiden lassen – oder Möbel kaufen. Stattdessen überqueren wir den Fußgängerüberweg und spazieren den Block entlang, an dem die Fläche zwischen den Häuserreihen am breitesten ist. Der Grund: die XXL-Böschung zu beiden Seiten der Düssel. Momentan ist sie eher kahl, doch bis zur grünen Explosion ist es nur eine Frage der Zeit. „Zumindest ein paar Bäume bleiben in dieser tannenfreien Zone auch im Januar grün“, sagt mein bester Freund P. und zeigt auf die Street-Art-Birken an der Fassade über der Trinkhalle „Karolinger Eck“.

Wir überqueren die Merowingerstraße, und dann überfallen uns Jugenderinnerungen: Sie kreisen um ein bundesweit bekanntes Ladenlokal. Da wo es mal war, geht gerade ein Neubauprojekt in die Endphase. Ob es Karolinger Karree, Karolinger Palais, Karolinger Höfe, Karolinger Home, Karolinger Living oder Karolinger Quartier heißt, fällt uns gerade nicht ein. Neubauprojekt-Namen klingen ja fast immer gleich, da verliert man schnell den Überblick. Jedenfalls: Das Ladenlokal, um das es hier gehen soll, hieß Data Becker und befand sich auf dem längst abgerissenen Auto-Becker-Gelände. Mit seinem weithin sichtbaren Schornstein prägte das Autohaus jahrzehntelang das Viertel – gegründet 1947, insolvent 2002. Zwischendurch, 1981, kam zukunftsträchtiger Nachwuchs zur Welt und wurde auf den Namen „Data Becker“ getauft: ein IT-Fachgeschäft, das später erfolgreich Zeitschriften, Bücher und Software veröffentlichte – und 2011 schloss. In den 80ern avancierten die für Kunden „offenen“ Computer-Plätze zeitweilig zum Freizeit-Treff computerbegeisterter Teenager, vom Personal anfangs mehr oder weniger geduldet. Vermutlich haben mein bester Freund P. und ich dort oft zur gleichen Zeit abgehangen (wir kannten uns damals noch nicht).

„Habt Ihr bei Data Becker auch immer BASIC-Programme von Computerspielen aus Zeitschriften abgetippt?“, fragt mein Begleiter.

„Nein, wir haben gezockt und auf Kassetten oder Disketten Spiele ausgetauscht, erst für den VC20 und den C64, später für den Amiga 500“, antworte ich.

Und während wir uns der Ecke Brunnenstraße/Karolingerplatz nähern – flankiert von Biker´s Hairdream (noch ein Spezial-Friseur!) –, feiern wir in Gedanken ein Revival von Fort Apocalypse, Castle Wolfenstein, Summer Games und Pirates.

Am einzigen Blumenladen der Welt, der direkt über der Düssel liegt, wechseln wir Richtung und Uferseite. Quasi: Zurück auf Los. Über die Hundegassi-Meile, entlang des Geländers, vorbei am arabischen Restaurant Layali. Als sein so blinder wie alter Hund Manolo als Platanen-Pinkler seine greisen Besitzansprüche auf das gesamte Viertel veröffentlicht, lüftet P. endlich sein „Karolingerstraßen-Geheimnis“: Dass er in einer Altbau-Mietwohnung in der Mitte des Blocks seine Jugend verbracht hat, wusste ich schon. Jetzt outet er sich als „Tierschutz“-Aktivist: Mit 14 Jahren hat er die drei Goldfische Tick, Trick und Track heimlich in der Düssel ausgesetzt, in Sichtweite des elterlichen Wohnzimmerfensters: „Hat aber keiner gemerkt“, sagt P. „Und meinen Eltern habe ich erzählt, die Fische seien gestorben, und ich hätte sie im Klo runtergespült.“

„Gib’s zu“, sage ich, „du hattest bloß keinen Bock mehr darauf, das Aquarium zu pflegen.“

„Na ja“, sagt der Goldfisch-„Befreier“ – und grinst.

„Wir müssen unbedingt noch erwähnen, dass man von hier aus jahrelang diesen grandiosen und mehr als hundert Meter langen Spruch auf der ehemaligen Auto-Becker-Mauer lesen konnte“, wechsele ich das Thema.

„Du wirst eben genau das erreichen, woran keiner glaubt“, zitiert mein bester Freund P. „Auf einem Schaufenster in der Brunnenstraße ist das übrigens weiterhin zu lesen.“

Auf der restlichen Strecke passieren wir: das Hotel „Haus Karolinger“, das Weinhaus Machmer, den Spirituosenladen Bottle Schickeria, die Gitarrenakademie Düsseldorf, die Bar Ugly Deluxe und schließlich eines der „Wahrzeichen“ Bilks – den bunt bemalten Bilker Bunker.

„Und?“, fragt P. schließlich, „bist du immer noch der gleichen Meinung?“

„Mehr denn je“, antworte ich. Und dann zähle ich auf, warum du, liebe Karolingerstraße in meinen Augen die schönste, beste, tollste Straße der Stadt bist: Die unterschiedlichen Farben der Häuser. Die Enten. Der standortreue Graureiher auf Fischjagd. Die seltenen Besuche des Eisvogels. Die haushohen Platanen, deren Wipfel sich über dem Flüsschen küssen. Das Ufer im Wechsel der Jahreszeiten. Die historischen Backsteinbrücken. Das uralte Düssel-Geländer mit den charakteristischen Kugel-Knäufen, das für immer in Stand gehalten und niemals (!) ausgewechselt werden darf. Dazu summa summarum weit mehr Geschäfte und Lokale, als man denkt (siehe Infobox). Und nicht zu vergessen: Dieses Licht, dieses unfassbare Karolingerstraßen-Licht – wie es sich bricht zwischen den Platanen und in Frühling, Herbst, Sommer, Winter immer wieder neue und überraschende Schatten auf die Straße und auf die Fassaden wirft. Fazit: Mit der Düssel in der Mitte und als Vertreterin des bevölkerungsreichsten Stadtteils Bilk bist du das perfekte Symbol für Düsseldorf und gegen Düsseldorf-Klischees. Und weil das Herrschergeschlecht der Karolinger, nach dem du benannt bist, auch eine Art Königsfamilie war, lautet der Titel dieser Kolumne: Homage an die heimliche Königsallee.

Nach diesem Plädoyer gibt sich mein Begleiter versöhnlich, allerdings besteht er auf journalistische Distanz: „Wenn du meinst, die Karolingerstraße unbedingt persönlich ansprechen zu müssen, dann solltest du sie wenigstens siezen.“ Unter uns: Ich nehme meinen ironieliebenden Freund P. ja ohnehin nicht ernst – und wenn überhaupt, dann maximal zu 50 Prozent. In diesem Sinne, liebe Karolingerstraße, bleiben Sie so, wie du bist.

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