Martin Schläpfer übernimmt im September das Wiener Staatsballett Ballettchef Martin Schläpfer – Abschied aus Düsseldorf

Düsseldorf · Der Chefchoreograf und Künstlerische Direktor des Balletts am Rhein Düsseldorf-Duisburg, Martin Schläpfer, wird zum 1. September neuer Direktor des Wiener Staatsballetts. Tanzjournalistin Bettina Trouwborst hat ihn in neun langen Gesprächen befragt. Entstanden ist ein aufschlussreiches Buch, das viel vom privaten und öffentlichen Menschen offenbart. Wir trafen Bettina Trouwborst und Martin Schläpfer zum Doppel-Interview.

 Treffen an der Königsallee: Tanzjournalistin Bettina Trouwborst und Starchoreograf Martin Schläpfer.

Treffen an der Königsallee: Tanzjournalistin Bettina Trouwborst und Starchoreograf Martin Schläpfer.

Foto: Zanin, Melanie (MZ)

Mit 19 brilliert er unter Heinz Spoerli als Erster Solist im Basler Ballett, zur Jahrtausendwende – inzwischen selbst hochangesehener Choreograf – katapultiert er Mainz zur Ballettstadt und von 2009 bis 2020 euphorisiert er die Säle in Düsseldorf und Duisburg mit seinem Ballett am Rhein: Der renommierte Tanzmacher Martin Schläpfer treibt das 45-köpfige Ensemble zur Top-Kompanie, schreibt mit bemerkenswerten Choreografien und berührender Körpersprache Ballettgeschichte.

Die Zuschauer bedanken sich mit traumhaften Auslastungszahlen. Düsseldorf wird zur Pilgerstätte all derer, die Tanz pur und ohne Chichi bevorzugen. Doch nach elf Spielzeiten ist Schluss in Düsseldorf, der Schweizer bricht zu neuen Ufern auf. Schläpfer geht nach Wien, wo er zum 1. September Direktor des traditionsreichen Staatsballetts wird – Ballettakademie inklusive.

In seiner Abschiedssaison hat die Tanzjournalistin und langjährige Autorin dieser Zeitung, Bettina Trouwborst, neun intensive Gespräche mit dem Spitzen-Choreografen geführt. Herausgekommen ist das Interview-Buch „Mein Tanz, mein Leben“, in dem Schläpfer über Ballett und Glück, aber auch über Angst und Allüren spricht.

Unsere Zeitung traf die beiden in Düsseldorf zum Doppelinterview.

Herr Schläpfer, im Buch sagen Sie: „Interviews sind Brennholz für das Ensemble und die Kunst.“ Mit dem Interview-Buch von Bettina Trouwborst muss das Feuer doch regelrecht lodern.

Schläpfer: (lacht) Ich meine damit natürlich auch, dass man über Tanz reden muss, gerade weil er eine nonverbale Kunstform ist. Er ist im Kulturgut nicht so verankert wie die anderen Künste. Ich finde es wertvoll, über Tanz zu sprechen.

Was ist die Eigenheit des Balletts? Sie sagen, „es ist näher an einem Gedicht als an der Prosa“.

Schläpfer: Ja, bei meinen Stücken ist das in der Regel so. Ein Gedicht ist nicht so leicht aufschlüsselbar. Man muss es mehrfach lesen, selbst dann hat es noch Geheimnisse.

Frau Trouwborst, was war der Anstoß für das Buch?

Trouwborst: Ich habe so viel Ballett gesehen und hatte immer das Gefühl, dass ich nicht wirklich alles durchdrungen habe. Um zu verstehen, wollte ich den Menschen, den Künstler, in seiner Persönlichkeit erfassen. Als mir klar wurde, dass Martin Schläpfer sehr bald in Wien sein wird, habe ich die Gelegenheit ergriffen, um diese vielen Fragen anzubringen. Ich wollte diese Biografie erfahren, die mich wahnsinnig überrascht hat.

Inwiefern?

Trouwborst: Etwa die tiefe Lebenskrise von Martin Schläpfer, von der ich natürlich nichts wusste. Nach Höhenflügen bei Heinz Spoerli ging er plötzlich ohne feste Kompanie nach New York. Er spricht davon, wie verloren er damals war. Aber auch viele Ansichten haben mich erstaunt, manchmal nur Kleinigkeiten, die einfach lustig waren.

Zum Beispiel?

Trouwborst: Martin Schläpfer, der Startänzer, der jeden Abend vor einem Riesen-Publikum auftritt, geht nicht in öffentliche Schwimmbäder, weil er seinen Körper nicht zeigen will. Die Erklärung ist natürlich sehr einleuchtend. Auf der Bühne ist er geschützt – durch Licht, Kulissen und Kostüm, selbst wenn es nur Körperschminke ist.

Martin Schläpfer hat Ihnen auch verraten, dass er lange Kettenraucher war.

Trouwborst: Ja, damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich dachte, so ein Naturbursche, wie kommt der an so etwas Ungesundes.

Herr Schläpfer, wie würden Sie selbst Ihren Weg beschreiben? Sie choreografieren seit 1994.

Schläpfer: Also lapidar gesagt, war es ein Zufall oder ein Zwang, dass ich choreografiere. Ich wollte es nie. Es war auch nicht irgendein Ziel oder ein Traum. Ich eröffnete relativ jung eine Ballettschule – und wurde dann am Stadttheater in Bern Ballettdirektor. Da hatte ich klare Vorstellungen und musste zwangsläufig auch eigene Stücke machen.

Als Direktor führen und kreativ sein – funktioniert das bei Martin Schläpfer?

Schläpfer: Ich musste lernen, damit umzugehen. Idealerweise muss man das trennen und im Ballettsaal wieder in einen ganz anderen Fluss kommen. Es ist sicher eine Doppelbelastung. Vertrauen gehört dazu. Vertrauen in sich selbst, aber auch auf eine Kraft, die man nicht definieren kann. Wichtig ist natürlich auch ein gutes Team.

In Wien führen Sie künftig nicht wie bisher 45 Tänzer, sondern über 100. Ist das schwieriger oder gibt es auch Vorteile?

Schläpfer: Es gibt sicher große Vorteile im Sinne des Repertoires. Großartige Ballette, die man mit 45 individuellen Persönlichkeiten nicht aufführen kann. Die Arbeit bleibt aber schlussendlich die gleiche, die Menschenführung auch. Natürlich ist es mit 100 Tänzern noch fordernder, wenn man auf jeden zugehen, ihn ernst nehmen und auch spüren will. Und das musst du als Künstler, sonst kannst du es nicht machen. Sonst kannst du eine Kompanie nicht zum Brennen bringen. Das nehme ich sehr ernst und das lockt mich auch.

Die Kompanie zum Brennen zu bringen. Das klingt nach magischen Abenden, die Sie auch im Buch beschreiben. Welche Rolle spielt das Publikum für Sie? Das Wiener wird noch einmal ganz anders sein als das in Düsseldorf und Duisburg.

Schläpfer: Das Publikum ist ganz wichtig. Die Kunst muss mit den Leuten kommunizieren. Als Ballettdirektor bin ich gehalten, wirtschaftlich zu denken, auf der anderen Seite will ich mir treu bleiben, vom Erfolg unabhängig sein. Man darf seine Kunst nicht den Publikumsansprüchen anpassen. Es ist ein Gespürterrain, das muss man ertasten. Vielleicht kommt dann doch mal ein „Schwanensee“, den das Publikum nicht erwartet. Immer gut, wenn man nicht fassbar ist.

Trouwborst: Das gilt vielleicht umso mehr für das traditionell konservative Publikum in Wien.

Stand der „Schwanensee“ in Düsseldorf unter dem Druck hoher Erwartungen?

Schläpfer: Ich wusste ja, dass ich gehe, mich verändere. Ich dachte, now it’s time. Der „Schwanensee“ ist ein extremes Psychogramm, er hat viele Ebenen, die zu mir passen. Ich wollte zuerst lernen, wie man gut schreibt, bevor man umschreibt. Der Tanz alleine ist schon Kunst, er braucht nicht noch eine Handlung. Und das ist es auch, was ich verteidige. Es braucht nicht immer die Forderung nach einer Geschichte. Ich erzähle ja auch in meinen Stücken viel Text, viel Emotion, die aber eben nicht so leicht einsehbar ist.

Warum haben Sie sich für ein Interview-Buch entschieden und nicht für eine klassische Biografie?

Trouwborst: Ich finde es langweilig, einfach nur eine Lebensgeschichte nachzuerzählen. Das Spannende sind die Gedanken, die in den Balletten sind. Jeder sieht etwas anderes in so einem Werk. Wir haben sehr ernst geredet, aber auch viel Spaß gehabt. Es war alles nah beisammen, da passte die Form.

Schläpfer: Es war ein schönes Timing, weil das Buch in meinem Abschiedsjahr herausgekommen ist. Wir haben auch wirklich gerungen um eine Form. Aber ich hatte keine Furcht zu reden, ich nage nicht an meiner Vergangenheit. Ich bin nicht der Einzige, der etwas Schmerzliches erlebt hat.

Trouwborst: Es ist auch nicht voyeuristisch geworden. Aber wir sind schon an Grenzen gekommen.

Welche waren das?

Trouwborst: Zum Beispiel das Kapitel „Was ist Kunst?“

Schläpfer: Mit dem Älterwerden bin ich zurückhaltender mit einer Definition geworden. Vor ein paar Jahren hätte ich viel klarer gesagt, was das ist.

Trouwborst: Zuerst fiel Dir gar nichts dazu ein. Erst mal dieses Schweigen. Da kam nichts. Dann stiegen die Denkwolken aus dem Kopf, aber es wurde noch nicht verbalisiert. Dann kamen peu à peu die Gedanken rein.

Schläpfer: Was ist Kunst, was ist Gott? Das sind große Fragen. Natürlich muss Kunst auch immer eine Spiritualität haben. Es muss philosophieren auf der Bühne. Das interessiert mich am Tanz.

Aber es gibt ein Konzept, eine Dramaturgie.

Schläpfer: Inhaltlich bin ich nicht sehr demokratisch. Da checke ich permanent, ob es das ist, was ich will.

Wo kommt das her, das, was Sie wollen?

Schläpfer: Das kommt im Ping-Pong zwischen Kopf und Bauch.

Dieses Bürsten gegen den akademischen Strich. Ist das die eigentliche Begabung von Martin Schläpfer?

Trouwborst: Seine größte Begabung ist, aus dem Material, das das akademische Ballett vorgibt, Kapriolen zu schlagen, Bewegungen herauszumeißeln, die einfach nicht ins Bild passen. Aber dann auch wieder in den Fluss zu kommen, um etwas Neues zu erfinden.

Hat das den Erfolg in Düsseldorf ausgemacht?

Trouwborst: Ich glaube, den Erfolg macht etwas ganz anderes aus. Da sind verschiedene Ebenen. Die eine Ebene ist das, was man sieht. Schöne Körper, die meistens originelle Bewegungen machen. Aber es gibt auch intellektuelle und emotionale Subebenen, die mit der Musik zu tun haben. Da geht es um mehr  – um den Zustand der Welt, um die Bedürfnisse des Menschen, um die Gesellschaft. Martin Schläpfer paart das Visuelle mit Gedankentiefe – und manchmal auch Schweizer Humor.

Haben Sie Martin Schläpfer nach diesen neun langen Gesprächen jetzt „verstanden“?

Trouwborst: (lacht) Ich habe ein bisschen mehr verstanden. Ja.

Ist die Düsseldorfer Zeit denn noch zu toppen? Und müssen Sie sich in Wien neu erfinden?

Schläpfer: Man muss immer wieder versuchen, rein und neu an etwas heranzugehen, ohne die Altlasten der Erfahrung. Meine Tanzkunst ist nicht zu isolieren von dem, was in der Welt passiert und uns umtreibt. Ich möchte nicht so ein Spezialist sein. Ich kann sehr kämpferisch sein und sehr divenhaft. Ich weiß, dass dieses Leben, diese Karriere, nur geliehen ist. Meine Ballette nähren sich eher aus diesen Dingen. Ich weiß nicht, wo ich noch hin will. Die neue Stadt, die neue Mentalität wird sicher viel mit mir machen. Das hat seinen Reiz. Aber ich bin natürlich ein Teil von Düsseldorf-Duisburg. Ich bin hier erwachsen geworden. Das nehme ich mit. Ich hoffe, dass ich qualitativ nicht abfalle.

Was erwartet Sie in Wien?

Schläpfer: Ich gehe in der Programmgestaltung weiter, docke an die musikalische Qualität der Wiener Philharmoniker an. Ich habe viele Wünsche, pflege aber auch das Repertoire.

Kraft tanken Sie in der Natur, im Tessin.

Schläpfer: Also grundsätzlich bin ich kein Stadtmensch – und grundsätzlich bin ich nicht extrovertiert, auch wenn ich es sehr wohl sein kann. Mir geht es in der Natur besser. Das Stadtleben entleert mich. Was mich füttert, sind Freundschaften, das, was Menschen leisten. Aber es war schon immer mein Traum, Bauer zu sein. Wir hatten zuhause einen Hof.

Was kann das Ballett erreichen?

Schläpfer: Das ist nicht leicht zu beantworten. Ich habe eine große Passion für diese Kunst. Und ich finde sie relevant, weil sie auch heilend wirkt. Wenn du Tanz leben willst, muss du ihn zulassen. So körperaffin die Gesellschaft ist, so fremd bleibt sie dem Körper gegenüber. Der Tanz ist ein Urbedürfnis. Man kann ihn nicht fassen, aber er ist sehr nah am Leben. Doch ich kann Ihnen nicht sagen, dass ich in fünf Jahren noch choreografiere. Ich kann ohne Tanz, das weiß ich.

Was wünschen Sie Martin Schläpfer für Wien?

Trouwborst: Ich wünsche ihm ein offenes Publikum, ein schönes Arbeitsklima und endlich auch mal die Zeit zwischendurch, die Natur rund um Wien zu genießen.

Schläpfer: Das sind gute Wünsche.

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