Interview mit Altersforscher Christian Carls: Das Stigma Einsamkeit

Sozialpädagoge und Altersforscher Christian Carls weiß: Einsame Menschen werden oft gemieden. Er plädiert für mehr Freundlichkeit im Alltag.

Herr Carls, was ist eigentlich Einsamkeit?

Christian Carls: Viel mehr als ein Gefühl. Einsamkeit ist eine Bilanz, eine Analyse der eigenen Eingebundenheit in die Welt. Wenn ein Mensch sagt, er sei einsam, und man fragt ihn, was ihm fehlt, bekommt man meist eine sehr konkrete Antwort.

Also ist Einsamkeit kein Persönlichkeitsmerkmal?

Carls: Überhaupt nicht. Das ist ein gängiges Vorurteil. Ich rate jedem, der sich einsam fühlt, damit nicht hausieren zu gehen: Man wird schnell stigmatisiert. Sobald jemand signalisiert, dass er einsam ist, geht das Umfeld einem aus dem Weg wie einer ansteckenden Krankheit. Menschen, die nicht einsam sind, haben oft die Idee im Kopf: Mir kann das nicht passieren, das betrifft nur kontaktscheue Personen. Das stimmt aber nicht.

Wie wird ein Mensch einsam? Ist man daran selbst schuld?

Carls: Von Schuld zu sprechen, bringt nichts. Oft entscheiden Zufälle darüber, wer einsam wird. Viel hängt von der Verkehrssituation ab: Wie mobil ist ein Mensch? Die Gestaltung des Lebensraums entscheidet in hohem Maße darüber, wie man in seine Umwelt eingebunden ist. Und es entsteht schnell ein Teufelskreis. Über die Vernetzung mit anderen steigt der Wert einer Person für die Gesellschaft, man ist interessant. Isolierte Menschen haben nicht viel zu bieten.

Verschlimmert sich die Situation, je länger sie dauert?

Carls: Manche gewöhnen sich daran. Für die meisten ist es jedoch wie eine Spirale. Man verliert die Kompetenz, mit Menschen umzugehen, bekommt Angst, zu anstrengend zu werden. Es wird immer schwerer, auf andere zuzugehen, man wird verletzbar. Eine Begegnung im Supermarkt oder im Straßenverkehr kann die einzige in einer Woche sein — ist diese Begegnung negativ, kann das für diese Person die ganze Woche verderben. Das Selbstwertgefühl wird beeinträchtigt. Besonders schlimm ist Isolation, wenn sie daraus entsteht, dass man sich mit anderen verworfen hat. Versöhnung ist ein gutes Mittel gegen Einsamkeit. Versöhnung geht sogar ein Stück weit mit Menschen, die nicht mehr leben.

Sind Senioren stärker betroffen als jüngere Leute?

Carls: In sehr hohem Alter ist die Mobilität natürlich sehr eingeschränkt, Gleichaltrige leben möglicherweise nicht mehr. Aber auch in der dritten Lebensphase, im Alter 60 plus, kommt oft eine neue Situation auf die Menschen zu. Die Kinder sind aus dem Haus, man geht in den Ruhestand. Für die Kollegen ist man damit nicht mehr so interessant wie vorher. Ein anderes Beispiel: Ein Mitglied im Sportverein verletzt sich und kann den Sport nicht mehr ausüben. Man kann Mitglied bleiben, merkt aber: Es funktioniert nicht mehr richtig.

Wie kommt man aus der Einsamkeit wieder heraus?

Carls: Mein Tipp: Sich nicht einreden lassen, dass etwas mit einem nicht stimmt. Sich den Wert freundschaftlicher Kontakte immer wieder vor Augen führen. Sich nicht selbst belügen: „Ich habe meine Familie, das genügt mir“, das stimmt oft nicht. In der Erinnerung nach Beispielen für die Vielfalt geglückter Kontakte suchen. Wo habe ich gute Kontakte erlebt, wo habe ich mich verstanden gefühlt? Daraus kann wieder Lust auf neue Begegnungen entstehen und die Offenheit für die unterschiedlichen Möglichkeiten für Nähe und Intimität. Es engt ein, wenn wir zu genau wissen, wie ein Kontakt aussehen muss. Kontakte erzwingen, zum Beispiel indem man einen Nachbarschaftsstreit vom Zaun bricht, funktioniert auch nicht.

Bringt es etwas, den Großvater zu einem Seniorentreff überreden zu wollen, wenn ich den Eindruck habe, er sei einsam?

Carls: Überreden bringt nie etwas. Lieber sollte man nachfragen und herausfinden, was ihm fehlt, wann und wo er sich zuletzt eingebunden gefühlt hat. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Menschen so regelrecht aufblühen und anfangen zu erzählen.

Kann man denn vorbeugen?

Carls: Einsamkeit beschreibt nicht nur den existenziellen Verlust von Kontakten. Je kleiner das soziale Netzwerk eines Menschen ist, desto mehr verliert er an Alltagskompetenz. Ein loses Netzwerk ist wichtig, zum Beispiel auf der Suche nach einem neuen Arzt oder einem Ratschlag. Oberflächliche Beziehungen pflegen und wertschätzen ist eine wichtige Basis, um nicht in eine Extremsituation zu geraten.

Was kann die Gesellschaft tun?

Carls: Bei Begegnungen im Alltag sollte man immer damit rechnen, dass jemand besonders verletzbar ist. Ich habe einmal eine alte Frau im Supermarkt erlebt, die von der Kassiererin beschuldigt wurde, zwei Bündel Petersilie zu einem zusammengefasst zu haben. Eine Beiläufigkeit für viele andere, aber die alte Dame stand anschließend weinend auf der Straße. Freundlichkeit hat einen sehr hohen Wert, für einsame Menschen besonders, und wir wissen ja oft nicht, wer einsam ist. Die Vereinsamung vieler Menschen ließe sich auch verhindern, wenn sie von Politik, Medien und sozialer Arbeit mehr als gesellschaftliches Problem beachtet wird. Inklusionsbeauftragte auf kommunaler Ebene könnten die Auswirkungen politischer Entscheidungen auf die Kontaktfreundlichkeit eines Viertels reflektieren.

Wo liegt die Problematik bei bestehenden Angeboten für Senioren? Wie könnte eins aussehen, das wirklich hilft?

Carls: Die Angebote sollten im Vorfeld gut beschrieben werden, realistisch, nicht werbend. Viele Gruppen sagen von sich, dass sie offen für neue Gesichter sind — im Endeffekt sind sie es aber gar nicht. Ein telefonischer Vorkontakt macht es leichter. Ein Kennenlernen erfolgt im besten Fall in kleinen Schritten, so dass immer ein Rückzug möglich ist, ohne jemanden zu verletzen. Mein Geheimtipp: freiwilliges Engagement. Selbst organisieren und etwas mit anderen gemeinsam schaffen erleichtert die Kontaktaufnahme.

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