Interview: Maik Klokow - Der Capitol-Chef und die DDR

Maik Klokow (45) wurde im Osten geboren und machte im Westen Karriere. Die Einheit ist für ihn ein Moment des Glücks.

Düsseldorf. Ihr erster Job in Westdeutschland war bei Starlight Express. Was wollten Sie werden, als sie ein zehnjähriger Junge in der DDR waren?

Klokow: Boxer. Ich bewunderte den größten Kämpfer der Zeit, Muhammad Ali - es war mein Traum, so boxen zu können wie er. Irgendwann ist es umgeschlagen. Zu Hause wurde viel Schlager gehört, ich kannte alle Texte, und da dachte ich: Wenn das so ist, dann kann ich Schlagersänger werden - nicht ahnend, dass man dann auch singen können muss.

Klokow: Alles war grau überzogen. Damals konnte ich eine Blüten- oder Farbpracht besonders genießen. Heute ist es mir stellenweise viel zu bunt. Und Schlangen fallen mir ein, lange Schlangen. Wenn heute Leute irgendwo anstehen, muss ich gleich an den Osten denken.

Und es gab viele Zäune. Parchim, wo ich groß geworden bin und meine Familie heute noch lebt, war die größte russische Garnison in der DDR - mir kam es vor, als gebe es genauso viele Soldaten wie deutsche Einwohner -, da war alles eingezäunt. Panzer, Garagen, Unterkünfte, Kasernen.

Klokow: Ich bin auf dem Schulweg an den Kasernen entlang gelaufen. Die Russen liefen jeden Morgen, auch im Winter bei Schnee, mit nacktem Oberkörper durch das Gelände. Ich hörte ihre schweren Gesänge. Das war auch furchteinflößend. Wenn die über das Schlachtfeld laufen, dachte ich, bekommt man es mit der Angst zu tun. Später habe ich einzelne Soldaten und Offiziere kennengelernt, aus der Masse schälten sich Individuen heraus.

Klokow: Ja, aber das wurde nicht gerne gesehen. Die Soldaten haben uns leid getan, denn sie haben unter den schwierigsten Bedingungen leben müssen, was das Essen und die sonstige Versorgung angeht. Das war katastrophal - und dennoch haben sie nach außen Würde bewahrt. Mit einem von ihnen, Victor, bin ich noch heute befreundet. Dieses Wochenende fahre ich mit meiner Frau nach Moskau, wir schauen ein Musical an - und wir treffen Victor.

Klokow: Ich denke viel über die Geschichte nach. Über den zweiten Weltkrieg. Es beschäftigt mich, wo wir Deutschen herkommen, was geschehen ist und wie die anderen Länder reagiert haben. Die russische Seite hatte insgesamt ein schweres Los zu tragen und lange Zeit allein gegen die Deutschen gekämpft.

Ich will nicht verharmlosen, was die Russen an Schuld auf sich geladen haben - aber man muss sich nur die Millionen Toten auf ihrer Seite vergegenwärtigen, dann weiß man, was dieses Volk erlitten hat. Es hat in mir eine tiefe Ehrfurcht hervorgerufen, mit welcher politischen Feinfühligkeit Gorbatschow die deutsche Einheit ermöglicht hat. Das ist ein großes Volk, intellektuell stark, emotional ohnehin, das keineswegs hinter dem Mond lebt, sondern dorthin geflogen ist.

Klokow: Ich bin ein großer Freund der Russen. Ich mag ihre Art sehr, auch ihre Traurigkeit, und wie sie feiern. Als es um die deutsche Einheit ging, sind sie die größten Schritte gegangen. Über Gräben, die kein anderes Land überwunden hätte, da bin ich sicher. Sie hätten ja auch noch 50 Jahre Reparationszahlungen von uns verlangen können.15Milliarden haben die Deutschen schließlich bezahlt und sich selber gefeiert, aber kaum jemand hat gewürdigt, das mit der Einheit der Krieg beendet wurde und somit ein Kapitel geschichtlicher Umwälzung, wie es Europa nie erlebt hat.

Klokow: Ich galt nicht als systemkonform und durfte nicht studieren. Eigentlich hatte ich Innenarchitekt werden wollen, so aber machte ich zunächst eine Maurer-Ausbildung. Als ich eine Frau kennenlernte, die mich ins Theater zu einer Probe mitnahm, war das wie eine Offenbarung. Die Atmosphäre hat mich gefangengenommen. Ich habe dann als Kulissenschieber angefangen und schließlich die Ausbildung zum Bühnenmeister absolviert. Dafür musste ich meinen ersten Ausreiseantrag von 1986 zurückziehen. 1989 habe ich dann den nächsten gestellt.

Klokow: Ja, und ich habe bei den anschließenden Versammlungen in der Kirche auch einmal eine Kanzelrede gehalten. Mein Vater war besorgt und machte mir abends Vorhaltungen. Ich sagte ihm: Entweder wir stehen jetzt auf, oder wir tun es nie. Es ging für mich nicht mehr um die Frage, ob es mir, sondern ob es allen gut geht. Mein Vater war nach diesem Abend viel aktiver und stärker in die Demos involviert.

Klokow: Ich habe, aus Staatssicht betrachtet, eine wunderbare Kindheit gehabt. Ich hatte Schule, Hort, ich war bei den Jungen Pionieren und bei der FDJ und wurde sogar in meiner Klasse zum Agitator gewählt. Das war jemand, der die anderen unterwies. Der Bruch kam, als es um die alljährliche Messe ging, die es überall in der DDR gab. Da machten alle mit und sie waren ein Zielkorridor mit Blick auf die Leipziger Messe.

Der Verantwortliche forderte neue Ideen, es ging um irgendetwas Technisches - und als ich unsere Ideen vortrug, meinte er, diese seien nicht gefragt. Die Ideen würden vorgegeben. Es kam zum Eklat, denn für mich waren Ideen frei. Damit galt ich als aufmüpfig. Ich wurde schief angeschaut - aber das Gute war, dass mich auch diejenigen anders anschauten, die schon aufmüpfig geworden waren.

Klokow: Vierzehn. Dass man nicht alles machen durfte, war mir klar, aber dass es nicht erlaubt war, gedanklich alles durchzuspielen, konnte ich nicht akzeptieren. Als Agitator wollte ich in der Folgezeit nicht mehr antreten. Man fragte mich warum, und ich antwortete, dass ich mit der Politik nicht einverstanden bin. Es entstand ein Dominoeffekt, und ich las viel. Die Helsinki-Charta, die Verfassung der DDR - da wurde es für die Lehrer bei Debatten schwierig und für mich kritisch. Dann machte ich die Ausbildung als Maurer und war abgelenkt. Aber selbst dort gab es seltsame Momente.

Klokow: Mich hat gewundert, dass wir an einem Tag viel arbeiten müssen und am anderen Tag wenig. Man hätte mir erklären können: Dass hängt davon ab, ob wir Zement bekommen oder nicht. Als ich dahinterkam, habe ich versucht, die Regeln zu ändern. Können wir nicht für drei Wochen Zement bestellen? Aber diesen Schlachtplan entwarfen alle gegeneinander, und man beschied mich ruhig zu sein, es gebe ja schließlich auch nicht mehr Geld.

Ich habe dann viel am Wochenende gearbeitet. Das hieß auch bei uns Schwarzarbeit, aber da wurden oftmals Leistungen getauscht nach dem Motto: Du hast ein Autoradio, ich baue dir dafür einen Zaun. Manchmal gab es auch Geld, und so konnte ich mir immer alles leisten. Jeans, elektronische Geräte etc.

Klokow: Es war das Auffangbecken für Gestrandete. Für politisch Randständige, aber auch sonst, für Schwule und Lesben, Alkoholiker. Ende der achtziger Jahre kam Leander Haussmann mit seiner Truppe nach Parchim und mischte die Stadt auf - und ich war mittendrin. Ich habe sogar kurz probiert, Schauspieler zu werden. Die Gespräche nach den Aufführungen in der Kantine haben mir weiter die Augen geöffnet, und ich wurde immer frustrierter.

Man hat mich immer öfter vorgeladen und wollte mich schließlich staatenlos ausreisen lassen. Nach Prag, Warschau. Ich aber wollte mein Recht, ausreisen und auch wieder kommen zu können. Ein großer qualitativer Unterschied. Im Theater fehlten gleichzeitig immer mehr Menschen, die sich auf den Weg etwa nach Prag gemacht hatten.

Klokow: Ich habe am 7. November 1989 beschlossen, die DDR zu verlassen und bin mit einem Freund am 8. November nach Berlin, wo ich noch Bekannte verabschieden wollte. An diesem Abend waren wir so sturzbetrunken, dass wir dort geschlafen haben. Als wir am 9. November abends fahren wollten, hieß es plötzlich, es braue sich etwas zusammen. Wir standen an der Bornholmer Straße, und nach einer Stunde wurde die Grenze geöffnet. Mein Freund Shorty wollte nicht mit in den Westen - wir standen auf der Brücke, haben uns angeschaut und geheult. Ich habe ihn bis heute nicht mehr wiedergesehen.

Klokow: Das ist so geschehen - und es ist vielen so gegangen. Wissen Sie, wie viele Ostler Angst davor haben, zu viel über die Vergangenheit des anderen zu erfahren? Ich habe mal den Antrag gestellt, in meine Stasi-Akte schauen zu dürfen, erhielt das Datum mitgeteilt - und habe den Brief zwei Tage vor dem Termin zerrissen. Ich wollte mir meine Kindheit, mein Leben nicht kaputtmachen lassen, weil mir deutlich gemacht wird, wer neben mir spioniert hat. Da lebe ich lieber in Ungewissheit, aber mit meinem Frieden. Mein Vater hat Einsicht genommen und war wahnsinnig enttäuscht, von Freunden und Verwandten.

Klokow: Wenn mich jemand fragt, ob ich ein Glückskind bin, dann sage ich ja. Ich war mehrfach in meinem Leben zur rechten Zeit am richtigen Ort und habe die richtigen Leute getroffen. So blieb ich auf dem Weg von Franken nach Hamburg zum Vorstellungstermin mit dem Auto liegen und hatte kein Geld. Der Technische Leiter von Stella Musicals hat mir welches besorgt, damit ich weiter kam. Mir, einem wildfremden Ossi.

Und ich habe von ihm den Job in Bochum bekommen, zum 1.Januar 1990. Ein Schauspieler, der nach Berlin wechselte, gab mir seine Einzimmerwohnung für drei Monate - die Miete war bezahlt -, und da alle wussten, dass ich keinen Hausstand hatte, standen immer wieder Tüten in meinem Büro, mit Geschirr etc. Das war toll.

Klokow: Wie gut es hier Menschen ohne Arbeit geht. Mit war 20 Jahre indoktriniert worden, dass Arbeitslosigkeit im Kapitalismus sehr gefährlich ist. Ich aber sah Arbeitslose mit Wohnungen und Autos.

Klokow: Ja, und das werden Sie wohl von jedem hören: das große Zusammengehörigkeitsgefühl, das auch immer Schutzräume stiftete. Daher kam auch die Kraft, gemeinsam auf die Straße zu gehen.

Klokow: Aber sicher. Es ist zwar nicht meine Sache, an Sonja-Margarine zu hängen, aber 120Sorten Joghurt im Supermarktregal brauche ich auch nicht. Für einige ostalgische Ansichten habe ich also Verständnis, allerdings nicht im politischen Sinne. In diesem Punkt kann ich jedem nur sagen: Wehret den Anfängen. Gnade uns Gott, wenn die Linke auch hier stärker wird. Ich habe diese Woche Sahra Wagenknecht bei Maybritt Illner gesehen - da wird mir schlecht. Die Leute blenden Dinge aus und verfangen sich in ihrem Mitleid. Sie wollen auch im Kapitalismus die Gleichmacherei.

Klokow: Ich glaube, es war in der DDR schwieriger. Dort musste jeder arbeiten, und nur deswegen gab es die entsprechende soziale Infrastruktur vom Hort bis zur Ganztagsschule. Bei meiner Frau und mir ist das heute eine freiwillige Entscheidung. Die Frauen in der DDR sind für mich die größten Verlierer der Wiedervereinigung. Erst wurden sie gebraucht und dann nach Hause geschickt. Sie fielen in ein Loch.

Klokow: Im Vergleich zu dem, was dort vorher war: Ja. Natürlich hat Kohl übertrieben. Keiner wollte hören, dass es lange dauern könnte. Hätte er denn von 20 oder 30 Jahren sprechen sollen? Sicher, wenn man die Einheit zehn Jahre hätte planen können, wäre vieles besser gelaufen. Aber im historischen entscheidenden Augenblick ist richtig gehandelt worden, und jeder Euro ist zurecht ausgegeben worden. Ost und West mussten sich schnell vereinen. Was hätte es denn für Diskussionen gegeben, wenn zunächst einmal Millionen Ostdeutsche in den Westen geflüchtet wären?

Klokow: Es ist immer noch in Planung. Wir haben im Capitol-Theater die erste Uraufführung eines eigenen Stücks im nächsten Jahr. Dabei geht es um einen Film, den wir auf die Bühne bringen. Anders als in der Politik kann ich ja sagen: Gut Ding will Weile haben - und das Wiedervereinigungsmusical ist fertig, wenn ich das Gefühl habe: So ist es rund und erzählenswert.

Klokow: Ein Musical, das ich zur Wiedervereinigung mache, hätte diesen Moment des Glücks als Schlusspunkt. Ich glaube, dass kaum ein Volk dieser Welt mit solch einem Ereignis beglückt wurde. Und dies wird mir im Alltag viel zu schnell weggewischt.

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