Streitgespräch „Ich bin nicht Günter Grass, eher das Gegenteil“

Vor kurzem haben wir das Buch „Zum Glück gab es Beat“ des Düsseldorfer Schriftstellers Wulf Noll besprochen. Unser Redakteur Thomas Frank fand, dass Nolls Hommage an den Beat missglückt sei. Der Autor wiederum betrachtet die Rezension als missglückt. Nun trafen sich beide zum Streitgespräch.

Streitgespräch: „Ich bin nicht Günter Grass, eher das Gegenteil“
Foto: dpa

Herr Noll, was genau stört Sie an der Rezension?

Wulf Noll: Ich meine, dass die Motive missverstanden oder zum Teil auch nicht erkannt wurden. Einmal ist Ronny Blumenstein eine philosophische Figur. Zum anderen ist er auch ein Píkaro, also ein Schelm. Es gibt ja eine lange Tradition des Schelmenromans. Natürlich stand die Beat-Bewegung im Vordergrund, aber auch diese hat pikareske Züge: Das ist das unstete Herumwandern und die Suche nach etwas. Nun hatten Sie ja gesagt, was ich da mache, sei zum Teil Behauptungsliteratur. Das verstehe ich gar nicht. Deshalb will ich Sie zurückfragen, was Sie unter Behauptungsliteratur verstehen.

Für mich ist das Problem dieses Buches, dass es unentwegt Dinge behauptet, diese Dinge aber nicht beschreibt. Da heißt es zum Beispiel über die Hauptfigur: „Das Verschüttungstrauma war ein Ungeheuer in Blumenstein selbst. Er bekämpfte es und das angeborene Dunkel in ihm auf seine Weise, damit aus der Dunkelheit Licht, damit aus dem Trauma Traum werden könne.“ Wie Blumenstein dieses Trauma besiegt, erfahre ich aber nicht. An einer anderen Stelle heißt es: „Im ‚Summer of Love’ des Jahres 1968 brodelte in München das Leben in Studenten- und Hippie-Cafés, in Jazzkellern, Diskotheken, Kneipen, Gärten und Parks“, aber wie genau es dort brodelte, verschweigt das Buch. Sie vermitteln nicht, was in Ronny vorgeht oder wie sich die Beat-Zeit anfühlt. Dadurch wirken die Figur und die Zeit unlebendig.

Noll: Es kann vermutlich sein, dass Sie generell Schwierigkeiten mit dieser Generation haben. Ich bin ja ein Zeitzeuge und Leute meines Alters fühlen sich angesprochen. Andererseits ist es ja ein Zeichen der Pikaro-Literatur, dass sie Episoden nebeneinanderstellt, dass die eigentliche Konfliktlösung nicht ausgetragen wird. Es kommt aber zum Spiegel. Der Held durchwandert sehr viele gesellschaftliche Schichten, spiegelt diese oder demaskiert sie vielleicht. Zum Schluss blickt man retrospektiv auf das, was gelaufen ist. Eine bloße Behauptung findet nicht statt. Blumenstein als Held entwickelt sich ja weiter. Er muss nicht jede Äußerung nochmal hinterfragen. Es ist ja Literatur. Literatur präsentiert.

Ja, aber diese Episoden werden nur flüchtig beschrieben. Die Figuren, die Orte, die Zeit bleiben für mich blass. Wenn Blumenstein mit seiner Freundin Christine unterwegs ist, dann trampen sie schnell durch Großbritannien, sind mal kurz in Glasgow, mal kurz in Edinburgh …

Noll: Aber das ist die Struktur des Pikaro-Romans.

Aber es wirkt so, als wären die Betrachtungen der Orte und Landschaften aus einem Lexikon entnommen. Wie sieht die Hauptfigur denn die Landschaft? Wie sieht es in den Hippie-Kulturen aus, in die Blumenstein und Christine eintauchen? Das kommt alles viel zu kurz.

Noll: Damals war der Druck, unter dem Blumenstein oder der Autor Wulf Noll stand, ja beträchtlich. Blumenstein wurde gewissermaßen verfolgt. Die Leute, die schrien mich an, die sagten „Ab ins KZ!“. Es war der Sechstagekrieg zu diesem Zeitpunkt, da schrien sie: „Weg nach Israel mit dir!“ oder spuckten mich an. Beim Trampen donnerte ein Armee-Lastwagen der Amerikaner über mein Gepäck hinweg und fuhr winkend weiter. Darüber hätte ich schreiben können oder müssen. Das vermissen Sie vielleicht. Aber das geht nicht, ich muss das kompensieren. Das kotzt mich an.

Der Widerstand gegen Sie bzw. Blumenstein ist für Sie also nicht literaturwürdig?

Noll: Ja, es ist für mich etwas Verkotztes. Das will ich nicht, deshalb verdränge ich das.

Aber wäre die Literatur nicht ein Mittel, sich an den „Feinden“ zu rächen? Dante rechnet in seiner „Göttlichen Komödie“ auch mit seinen Feinden ab.

Noll: Das war für mich nichts, womit ich mich beschäftigen konnte. Deshalb dieser Ausweg: diese Suche nach dem Mystischen, Philosophischen, nach dem Kontemplativen, nach dem Rückzug, nach der Ruhe in der Wald-Eremitage. Das ist eine sehr positive Erfahrung gewesen. Ich genoss die Zuwendungen des Pater Emmeram, einem Bruder des Fürsten Thurn und Taxis, und anderen Leuten aus dem Establishment. Obwohl das politisch nicht meine Richtung ist, war das menschlich unglaublich aufbauend.

Das leuchtet mir ein, aber indem sie die Konflikte aussparen, wirkt Blumenstein für mich unglaubwürdig.

Noll: In meinem Beat-Buch ist ja das Jahr 1969 wichtiger ist als 1968. 69 waren Woodstock und die sozialliberale Koalition, also die neue Regierung, die sich auf Emanzipatorisches und Chancengleichheit spezialisiert hat. Und das führte dazu, dass Blumenstein aus dem Wald in die Gesellschaft zurückkehrt. Nicht die Studentenbewegung. Blumenstein war ja schon etwas älter und weiser durch die Wald-Eremitage, durch die Reisen nach England, Schottland oder Indien. Er ist schon über die Konflikte hinaus. Das müsste man eigentlich erkennen können.

Aber dieses Mehr an Weisheit und Lebenserfahrung wird eben nur behauptet und nicht plastisch erzählt. In der Kommune 1 zum Beispiel findet Uschi Obermaier Blumenstein ja viel spannender als Rainer Langhans. Aber Sie schreiben nur, dass sie „verwundert den Geschichten des lang- und schwarzhaarigen ‚Zaubermeisters’“ lauscht.

Noll: Das reicht doch. Alles andere wäre doch zu intim oder wäre vielleicht ein Ausnutzen der Situation oder ein Ausspielen.

Aber das ist doch schade, dass Sie diese Erlebnisse nicht konkret erzählen.

Noll: Nein, ich habe eine gewisse angeborene Dezenz oder Zurückhaltung. Ich bin nicht Günter Grass. Ich bin eher das Gegenteil. Ich folge dem sanften Gesetz in der Literatur.

Das finde ich gut. Aber ich hätte gerne erfahren, wie Blumenstein seine Überlegenheit etwa gegenüber Rainer Langhans in Szene setzt. In einem gewitzten Dialog vielleicht.

Noll: Die damalige Zeit war zwar laut und konfliktreich. Vielleicht vermissen Sie das, dass man diese Konflikte schärfer formulieren und austragen müsste. Das sehe ich auch. Aber das habe ich nicht getan. Warum? Weil für mich das Sentimentale, das Romantische stärker im Vordergrund steht. Was Sie anscheinend gar nicht verstehen, ist der philosophische Ansatz, das ist das Kontemplative.

Ich finde Ihren philosophischen Zugang zu den späten 60ern an sich erfrischend. Am Anfang dachte ich ja auch, dass mich das begeistern könnte. Doch wenn Blumenstein philosophisch so beschlagen ist, warum kriege ich dafür keine Beweise?

Noll: Er ist doch auch ein Einsiedler, ein Sozialautist, wie man heute sagen würde. Der muss erst diesen Panzer sprengen, das kann er nicht sofort in der Kommunikation schaffen, sondern nur in der inneren Arbeit. Und diese innere Arbeit lässt sich schwer vermitteln.

Das ist der entscheidende Punkt. Wie läuft diese innere Arbeit ab? Dieser Kampf mit dem Verschüttungstrauma, mit dem Trauma des Leidens an der Gegenwart …

Noll: Es ist ja eine relativ lange Zeit für den Blumenstein. Zwei Jahre in der Eremitage und eine längere Zeit auf Reisen. Das Lösen der Traumata hat etwas mit dem Ausagieren zu tun. Er agiert sich selber aus und das ist eine Form von Selbsttherapie. Deshalb taucht manchmal der Begriff Magier oder Schamane auf.

Aber genau das hätte mich interessiert. Wie verläuft diese Selbstheilung genau?

Noll: Ich weiß nicht, was Sie wollen. Sie wollen eine ganz moderne psychoanalytische Aufklärung. Das ist vielleicht gar nicht zu schaffen. Der pikareske Roman läuft anders: Die Hauptfigur kommt aus einfachen Verhältnissen, ist aber intelligent und macht eine Lehre durch, findet Förderer, steigt allmählich auf und irgendwann zum Schluss kann er in der Gesellschaft Erfolge haben, auch als Professor.

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