Interview „Architektur ist als soziale Utopie gescheitert“

Düsseldorf · Interview Helene Hegemanns Roman „Bungalow“ wird im Schauspielhaus inszeniert. Ein Gespräch über Gesellschaftsschichten und persönliche Fluchtgedanken.

 Schriftstellerin Helene Hegemann im Berliner Hansaviertel.

Schriftstellerin Helene Hegemann im Berliner Hansaviertel.

Foto: Urban Zintel Hanser Berlin/Urban Zintel

Mit ihrem Debüt-Roman „Axolotl Roadkill“ sorgte die Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin Helene Hegemann im Jahr 2010 für Furore. Erst 17 Jahre alt, feierten sie die Feuilletonisten als literarisches Wunderkind. Kurz darauf geriet sie jedoch ins Kreuzfeuer der Kritik: Plagiatsvorwürfe wurden laut und die Literaturszene hatte ihren Skandal. Hegemann ließ sich davon nicht beirren und schrieb weiter. Nach „Jage zwei Tiger“ (2013) erschien im vergangenen Jahr ihr dritter Roman „Bungalow“. Regisseur Simon Solberg wird ihn am 22. September im Düsseldorfer Schauspielhaus auf die Bühne bringen. Er spielt in einem Viertel, wo Betonmietskasernen neben Bungalows stehen, wo Arme und Reiche miteinander leben. Hauptfigur ist die zwölfjährige Charlie. Sie wächst mit ihrer alkoholkranken, schizophrenen Mutter in einer Sozialwohnung auf. Irgendwann zieht ein extravagantes, großbürgerliches Paar in einen benachbarten Bungalow ein. Das Mädchen verliebt sich in die beiden und will sie „besitzen, verachten und wegschmeißen“, wie es im Roman heißt. Es geht um Liebe, Co-Abhängigkeit (wenn ein Angehöriger unter der Sucht eines geliebten Menschen leidet) und die Kluft zwischen zwei Schichten.

Der erzählerische Clou: Die Kindheitsgeschichte spielt in der Gegenwart, geschildert wird sie aber aus der Zukunft. Da lebt Charlie mit ihren Kindern bereits an der amerikanischen Westküste. Und noch etwas: Zwischen der Zukunft und der Gegenwart, in der sie noch Kind ist, hat sich eine Katastrophe ereignet. Ob Weltkrieg, atomares Desaster oder Waldsterben – das bleibt offen. Die WZ sprach mit Helene Hegemann im Schauspielhaus am Gründgens-Platz über die Faszination für Bungalows, den Hauptkrieg des modernen Menschen und ein mögliches Leben jenseits der Zivilisation.

Frau Hegemann, Sie erzählen in „Bungalow“ eine außergewöhnliche Dreiecksbeziehung. Charlie, ein zwölfjähriges Mädchen aus der Unterschicht verliebt sich in ein Schauspieler-Paar aus der oberen Mittelschicht. Was fasziniert sie an den beiden?

Helene Hegemann: Diese beiden Menschen, Georg und Maria, sind für Charlie nicht richtig verortbar – sie wirken wie totale Rebellen, haben das System aber offenbar doch ihren Vorstellungen entsprechend bezwungen, sonst hätten sie nicht das Geld, sich eines dieser Bungalows kaufen zu können. Es ist eine Aufsteigergeschichte, das heißt Charlie ist fasziniert von einer mondänen, vermeintlich ihr nicht zugänglichen Welt, und sie will da rein. Hinzu kommt schlicht, dass sie die beiden irre sexy findet. Und es gibt noch eine unvermutete Übereinstimmung zwischen Charlie und dem Paar: Charlie lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter in Verhältnissen, die sie glaubt, vor der Außenwelt verbergen zu müssen. Sie ist permanent damit beschäftigt, zu performen, dass ihr Leben ein anders ist. Und dann sieht sie plötzlich zwei Freaks, die genau mit dieser Art von Schauspielerei Geld verdienen.

Das Viertel ist ja auch architektonisch außergewöhnlich angeordnet.

Hegemann: In der Mitte liegen sechzehn Bungalows, Ausnahmeimmobilien für Besserverdiener, und drumherum, in unmittelbarer Nachbarschaft sind Zeilenbauten. Ich fand das ein irres Bild, dass die Elite umringt ist von Armen, die aus zehnstöckigen Gebäuden auf deren Dächer draufgucken.

Das Viertel ist angelehnt an das Berliner Hansaviertel. Die Geschichte auch?

Hegemann: Das Viertel ist eine fiktive Extremvariante des Hansaviertels. Es hat mich tatsächlich gewundert, dass da nicht schon ein Pro7-Event-Mehrteiler über die soziale Spaltung gedreht wurde. Ansonsten fand ich es eine lohnende Herausforderung, eine Liebesgeschichte zwischen einem Ehepaar Anfang 40 und einer Zwölfjährigen möglichst plausibel zu erzählen, ohne dass es total anstößig wirkt.

Kommen wir auf den Romantitel „Bungalow“ zu sprechen. Der Bungalow hat in Deutschland in den 1960er Jahren seinen Siegeszug gefeiert. Als Vorbild standen die kalifornischen Bungalows Pate: Flachdach, bodentiefe Fenster als Bindeglied zwischen Architektur und Natur, ein Pool. Der Bungalow stand für kalifornische Coolness und Lässigkeit, für ein mondänes Lebensgefühl, findet sich ja etwa auch in James-Bond-Filmen. Ist er in Ihrem Roman ein Sinnbild für die sozialen Klassenunterschiede?

Hegemann: Das ist wahrscheinlich der Ehrgeiz, wenn man sowas schreibt. Ich fand auch das Wort so toll. Eine Mischung aus dem englischen „low“ und der nordindischen Region Bengalen. Letztendlich kann man sich aber von der Sowjetdatscha bis zum Kanzlerbungalow oder einem Haus in den Hollywood Hills alles mögliche darunter vorstellen.

Bleiben wir beim Architektonischen. Das Viertel, in dem Charlie aufwächst, wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt und Mitte der 1950er Jahre als „Demonstrationsobjekt für die Leistungsfähigkeit des Kapitalismus“ wiederaufgebaut worden. Es ist die Hinterlassenschaft einer Architektur-Utopie, wie sie seit den 1950er Jahren in Deutschland ja häufig gebaut wurden. Siedlungen mit Hochhäusern und Zeilenbauten. Heute gelten die meisten dieser Beton-Utopien als gescheitert.

Hegemann: Alle architektonischen Utopien scheitern, habe ich den Eindruck, sobald es um die soziale Utopie geht, dass ein Einzelner ein Viertel so anlegen kann, dass es allen gerecht wird.

Nun Charlie kämpft gegen soziale Vernachlässigung: Sie isst viel, schläft viel, sieht fern, fängt irgendwann an zu rauchen und nimmt Drogen. Als sie einem reichen Bewohner und dessen Söhnen Kekse anbietet, wird sie verspottet. Zeigen Sie damit auch das Scheitern dieser Beton-Utopie, in der es menschlich hart zugeht?

Hegemann: Aber wäre es nicht viel härter, wenn stattdessen eine Ghettoisierung vorherrschen würde? Zum einen wohnen in den Bungalows ja nicht ausschließlich reiche Arschlöcher. Zum anderen setzt es eine gewisse Grundtoleranz voraus, wenn man sich dazu entscheidet, nebeneinander zu leben, obwohl man vollkommen andere Grundvoraussetzungen hat. Ich würde da nicht von Scheitern sprechen. In der Realität ist das soziale Wohnungsbauprojekt Hansaviertel, das Anfang der 1950er Jahre für die Weltarchitekturausstellung gebaut wurde, tatsächlich nicht aufgegangen. Aber der Grund dafür ist ein völlig anderer: Inzwischen leben in diesen Zeilenbauten nämlich auch nur noch besserverdienende Künstler und Kreative, weil sie in Zeiten der Gentrifizierung einen einigermaßen bezahlbarer Wohnraum für die gehobene Mittelschicht darstellen, und es als chic gilt, da zu wohnen. Nur im Buch funktioniert die Utopie noch so, wie sie mal gedacht war.

Sprechen wir über den Zustand der Welt, den wir im Roman vorfinden. Da geht es apokalyptisch zu, die Ozonwerte sind so hoch, dass die Menschen nicht aus den Häusern dürfen, auf der Straße liegen lauter tote Tiere herum, möglicherweise hat eine ökologische Katastrophe den Planeten heimgesucht …

Hegemann: Es liegen in der Stadt einfach sehr viele Kadaver rum. Das ist so. Manche Menschen bemerken das, andere nicht.

Aber so viele auf einmal?

Hegemann: Alle 100 Meter ein toter Vogel oder eine tote Ratte kann parallel zur Karl-Marx-Allee in Berlin schonmal vorkommen. Es war jedenfalls nicht so angelegt, dass in dem Buch eine Naturkatastrophe nicht mehr abzuwenden ist.

Die Atmosphäre erscheint jedenfalls bedrohlich. Der Himmel ist grau, Kriege brechen aus, dann heißt es aber: Es gibt nicht fünf oder sechs Kriege in der Welt, sondern sieben Milliarden. Ist die ganze Gesellschaft bis in den Alltag hinein von Kriegen durchzogen?

Hegemann: Sieben Milliarden Kriege in der Welt impliziert ja, dass jeder gegen sich selbst kämpft – ein Sinnbild dafür, dass dies die größte Anstrengung ist, die der moderne, westlich sozialisierte Mensch gerade durchzumachen hat. Der Kampf gegen das eigene Scheitern bzw. dagegen, dass man es nicht hinkriegt, sein Potenzial auszuschöpfen. Was sich nun konkret in dem Roman abspielt, ist die Nebeneinanderstellung einer sich anbahnenden apokalyptischen Katastrophe, einem Weltkrieg, und einer persönlichen Katastrophe, also dem kleinstmöglichen Krieg zwischen zwei Menschen, einem Kind und seinem Elternteil, der umso komplizierter wird dadurch, dass er nicht auf Hass beruht, sondern auf Liebe.

Die Welt in Ihrem Roman ist im Taumel, im Chaos. Es herrschen Werteverlust, Orientierungslosigkeit, Haltlosigkeit. Aber die Figuren scheinen da einigermaßen mutig und furchtlos durchzugehen.

Hegemann: Es gibt durchaus auch ein paar sehr ignorante Figuren, und solche, die zerbrechen an der Diffusität der Situation. Ich glaube, das ist generell der schlimmste Zustand, diese Tyrannei der Ungewissheit.

Kommen wir zu Ihnen persönlich: Sie haben bereits als Kind angefangen zu schreiben. Was hat Sie seinerzeit in die Sprache getrieben?

Hegemann: Weiß ich nicht mehr. Kickboxer können Sie auch nicht fragen, was sie zum Kickboxen gebracht hat. Es könnte ein tiefer seelischer Einschnitt gewesen sein, aber der bringt andere Leute wiederum zum Aquarellmalen.

Ihr Debüt-Roman „Axolotl Roadkill“ wurde als literarische Sensation gefeiert, als dann die Plagiatsvorwürfe laut wurden, waren Sie plötzlich Hauptfigur eines Literaturskandals. Was hat dieses Wechselbad aus Hochjubeln und Brandmarkung mit Ihnen gemacht?

Hegemann: Das spaltet man ziemlich von sich ab. Sowas bringt nicht besonders viel.

Sie fahren zum Schreiben ja auch gerne weg. An welchem Ort haben Sie „Bungalow“ geschrieben?

Hegemann: Das hat mich noch nie jemand gefragt, wirklich, noch nie. Herzlichen Glückwunsch! (lacht)

Danke. Also nicht im Berliner Hansaviertel?

Hegemann: Größtenteils in Berlin, aber nicht dort. Und in Toronto ein Stück.

Der Roman landete auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Aber Sie sagten mal in einem Interview: Falls es nicht so läuft mit dem Schreiben, hätten Sie einen Plan B in petto.

Hegemann: Ach ja?

Ja, Sie würden aussteigen und in der kanadischen Provinz leben, ohne Strom und Wasser.

Hegemann: Haben Sie solche Gedanken nicht?

Doch.

Hegemann: Ich finde es nicht besonders chic, und ich schäme mich auch dafür, das zu äußern, aber es ist eine Art Fluchtgedanke. Zu den Hippies in die kanadische Provinz zu gehen und dort ohne Strom zu leben, das könnte mir unter Umständen passieren.

Ist Schreiben für Sie dann nicht so existenziell?

Hegemann: Man kann da ja immer noch schreiben.

Sie arbeiten aber auch als Regisseurin, Drehbuchautorin und auch als Schauspielerin. Haben Sie eine Lieblingstätigkeit?

Hegemann: Ja, das Schauspielen (lacht). Nee, gibt es nicht. Doch ein bisschen. Regieführen macht auf jeden Fall sehr viel mehr Spaß als Schreiben.

Bungalow“ wird am 22. September um 19.30 Uhr im Schauspielhaus (Kleines Haus) am Gründgens-Platz 1 uraufgeführt.

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