Gewalt ist nicht vorhersehbar

Paranoide Schizophrenie — Gutachter Graf zu Bentheim über Täter und Kranke.

Gewalt ist nicht vorhersehbar
Foto: Michaelis

Es waren Fälle, die überregional Schlagzeilen machten. Im März wurden neun Menschen bei einer Axt-Attacke am Hauptbahnhof von einem 36-Jährigen schwer verletzt. Wenige Tage später tötete ein 16-Jähriger seine ein Jahr jüngere Freundin auf dem Gelände der ehemaligen Papierfabrik. In beiden Fällen kamen die Täter nicht ins Gefängnis, sondern in psychiatrische Behandlung. Diagnose: Paranoide Schizophrenie. Was das bedeutet, erklärt Christian Moritz Graf zu Bentheim, einer der führenden deutschen Gutachter für die Justiz.

Paranoide Schizophrenie. Was muss man sich darunter vorstellen?

Graf Christian zu Bentheim: Schizophrenie ist eine Psychose, unter der ungefähr ein Prozent der Bevölkerung leidet. Sind in der Familie schon Fälle bekannt, steigt die Wahrscheinlichkeit deutlich, an Schizophrenie zu erkranken. Zwischen dem 16. und 25. Lebensjahr kann es zu Persönlichkeitsveränderungen kommen. Man fängt an, plötzlich Dinge auf sich zu beziehen. Das können Gespräche von anderen sein, oder ein Auto, das vorbeifährt. Die Betroffenen fühlen sich beobachtet und bedroht, können nur noch schlecht schlafen. Sie hören kommentierende Stimmen, es kommt zu Wahnvorstellungen. Man nennt das eine Verkehrung der Realität. Daher stammt auch der Begriff verrückt.

Sind schizophrene Menschen grundsätzlich gefährlich?

Graf Bentheim: Der größte Teil dieser Menschen ist anstrengend, aber harmlos. Sie werden in der Regel nicht gewalttätig. Typisch ist allerdings, dass bei den Betroffenen jede Krankheitseinsicht fehlt. Oft sind das intelligente Leute, die sich auch schämen, über die Krankheit zu reden.

Kann man erkennen, wann jemand zu einer tickenden Zeitbombe wird?

Graf Bentheim: Das ist sehr schwer zu sagen. Gefährlich wird es immer dann, wenn Psychosen nicht behandelt und die Medikamente abgesetzt werden. In vielen Fällen wurden auch Behandlungen plötzlich abgebrochen. Wichtig ist, dass es ein Umfeld mit einer sozialen Kontrolle gibt. Wenn die fehlt, dann ziehen sich an Schizophrenie Erkrankte zurück. Oft sind sie dann sozial völlig isoliert und brechen alle Kontakte ab.

Was kann einen plötzlich Ausbruch von Gewalt auslösen?

Graf Bentheim: Jede Belastung oder jede Veränderung, die mit einer Verschlechterung verbunden ist, wird von den Patienten als Bedrohung empfunden. Außerdem kann eine Reizüberflutung der Auslöser sein. Man kann aber nicht pauschal sagen, wann es zu gewalttätigem Verhalten kommt. Das ist nicht vorhersehbar.

Was geschieht mit Patienten, die nach schweren Straftaten als nicht schuldfähig gelten?

Graf Bentheim: Sie werden in einer Fachklinik oder der Forensik untergebacht. Den Begriff geschlossene Anstalt halte ich für falsch, die Betroffenen befinden sich vielmehr in einem geschützten Bereich, der sie von negativen Außen-Einflüssen fern hält. Sie kommen in dem reizarmen Umfeld oft sehr schnell zur Ruhe. Dann kann man mit der Behandlung beginnen. Wichtig ist, dass man die Menschen ernst nimmt. Wenn sie Stimmen gehört haben, dann war das so. Die Patientin haben eine andere Realität erlebt.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass schizophrene Patienten auch nach schweren Straftaten bald wieder entlassen werden?

Graf Bentheim: Das kann man in der Realität praktisch ausschließen. Es findet ja kein normales Strafverfahren, sondern ein Einweisungsverfahren statt. Da wird der Zustand der Patienten sehr genau überprüft. Und wenn das Gericht feststellt, dass von dem Täter eine Gefahr für die Allgemeinheit ausgeht, wird eine dauerhafte Einweisung angeordnet. Es kann Jahre dauern, bis der Zustand der Patienten überprüft wird. Teilweise sind die Menschen bis zu ihrem Lebensende in einer Fachklinik. Darum ist eine Einweisung bei normalen Straftätern auch gar nicht so beliebt. Sie können nämlich nicht absehen, wann sie wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Im übrigen unterscheiden sich forensische Krankenhäuser nicht wesentlich von Gefängnissen.

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