Kinder- und Jugendhilfe Familien stehen unter Druck

20 Jahre gibt es das Krisenzentrum der Diakonie. Laut Leiterin Maria Löcken haben sich Probleme verschoben. Ein Interview.

Kinder- und Jugendhilfe: Familien stehen unter Druck
Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

Mehr als die Hälfte ihres Lebens arbeitet Maria Löcken schon in der Kinder- und Jugendhilfe — und die Leiterin des Krisenzentrums der Düsseldorfer Diakonie hat eine Entwicklung ausgemacht: Immer mehr Kindern fehlen Strukturen. Weil die Eltern überfordert sind, weil die Beziehungspartner wechseln, weil es zu wenig bezahlbare Wohnungen in der Stadt gibt. Zum 20-jährigen Bestehen des Krisenzentrum berichtet Löcken (51), was sich verändert hat.

Kinder- und Jugendhilfe: Familien stehen unter Druck
Foto: Diakonie Düsseldorf/ Gerald Biebersdorf

Sie sagen: „Viele Familien sind total überlastet und erschöpft“ — was meinen Sie damit?

Löcken: Es gab immer schon Familien mit schwierigen Problemlagen. Aber die Konstellationen haben sich verändert: Die Familien haben einen viel höheren Beziehungswechsel als früher. Natürlich kann eine Trennung auch positive Auswirkungen auf ein Kind haben — aber nur dann, wenn die Kinder die Erlaubnis bekommen, zu den neuen Partnern eine Beziehung aufbauen zu dürfen. Wenn sie also sagen können, eine Mama und eine Stiefmama zu haben und acht Großeltern statt vier. Aber leider ist das meist anders — und das führt zu Loyalitätskonflikten bei den Kindern.

Weil die Eltern Angst vor der Konkurrenz haben?

Löcken: Genau, auch Verlustängste und Kränkungen spielen eine große Rolle. Bei Trennungen geht es oft um Schuldvorwürfe — und die beziehen Kinder auch auf sich, weil sie ja wissen, dass sie zur Hälfte von Papa und zur Hälfte von Mama abstammen. Das zerreißt Kinder dann seelisch. Manchmal geht das so weit, dass Kinder oder Jugendliche sogar selbst zum Jugendamt gehen, wenn sie nicht mehr weiterwissen.

Heißt das, viele Familien sind überfordert mit der Kindererziehung, vor allem in schwierigen Lebenssituationen?

Löcken: Auf jeden Fall. Es herrscht ein enormer Druck. Eltern müssen sich fragen, was ihre eigenen Bedürfnisse sind und was die des Kindes — und das trennen können. Manchmal erziehen Eltern ihre Kinder so, wie sie selbst gerne erzogen worden wären. Aber das muss nicht das Beste für das Kind sein. Die Pädagogik hat sich verändert. Es geht nicht mehr darum, dass Kinder starre Regeln befolgen sollen, sondern dass sie die Regeln mitentwickeln. Wir wollen ja selbstbewusste und selbstwirksame Menschen erziehen.

Die Regeln bestimmen sollten die Kinder aber nicht?

Löcken: Sie sollen mitarbeiten. Denn wenn Kinder zu wenig Struktur haben, die ihnen Halt und Orientierung gibt, fehlt ihnen ein sicherer Hafen. Dann kann es sein, dass sie irgendwann Grenzen überschreiten, weil ihnen die Orientierung fehlt. Sie brauchen ein gegenüber, das ausbalanciert. Die Eltern sollten sich in das Kind hineinfühlen, verstehen, wie viel Autonomie ihr Kind braucht und wie viel Struktur. Das ist bei jedem Kind anders.

Warum fällt es so schwer, diese Balance zu finden?

Löcken: Der Druck auf die Familien ist enorm. In Düsseldorf fehlen zum Beispiel bezahlbare Wohnungen. Viele der Familien, die wir betreuen, müssen oft umziehen, weil die Wohnungen zum Beispiel nach Renovierungen zu teuer werden. Häufige Umzüge können aber fatale Folgen für die Kinder haben. Sie erleben immer wieder, dass die mühselig aufgebauten Bindungen etwa zu Freundinnen und Freunden oder Lehrerinnen und Lehrern wieder abreißen.

Sie betreuen aber Familien aller Gesellschaftsschichten?

Löcken: Bei Familien aus der Mittel- oder Oberschicht gibt es oft den Faktor Überbehütung, jedes Bedürfnis wird sofort erfüllt. Und Kinder, die zu viel Freiheit haben, zu viel sich selbst überlassen sind, rebellieren oft im Teenageralter, dann schreien sie nach Grenzen.

Wie kommen Sie mit den Familien in Kontakt?

Löcken: Wir sind keine Beratungsstelle, sondern wir arbeiten mit dem Jugendamt zusammen. Das heißt, dass jemand informiert hat: Nachbarn, die Schule, die Kita oder auch jemand aus der betroffenen Familie. Pro Jahr betreuen wir mit derzeit zwölf Kollegen 80 bis 100 Familien.

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