Erinnerungen: Leben auf der Streuselkooke-Allee

Manfred und Wolfgang Ruhnau kehren nach 70 Jahren zurück zum Ort ihrer Kindheit — auf die legendäre Kiefernstraße.

Düsseldorf. Vom Dachfenster aus schaut Manfred jeden Abend auf das Haus von gegenüber. Im ersten Stock wohnt Jeannette, seine Jugendliebe. Sie haben verabredet, dass jeder von ihnen vor dem Zubettgehen drei Mal das Licht ein- und ausschaltet. Gutenachtküsse haben in Kriegszeiten ihre eigenen Gesetze.

Die Herzensangelegenheit ist ewig her. Wenn Manfred Ruhnau jedoch von Eller in die Innenstadt fährt, radelt er auch Jahrzehnte später immer durch die Kiefernstraße.

Heute ist er allerdings nicht nur auf der Durchreise, heute bleibt er, steigt vom Rad und kehrt für zwei Stunden zurück in sein Leben mit Jeannette, Frau Zaremba, Onkel Eberhard und den Nachbarn, die an Weihnachten einen Hund auftischten.

Manfred Ruhnau ist 80 Jahre alt, sein Bruder Wolfgang 75. Sie sind in der Kiefernstraße groß geworden und lebten von 1933 bis 1950 mit den Eltern und ihrer Schwester Henny in Haus Nr. 8. Die Kiefernstraße war damals eine Wohnstraße mit Frisör, Metzger, Bäcker, Lebensmittelgeschäft und Kolonialwarenladen.

Für die Arbeiter der Klöckner Draht-Industrie waren die Häuser in den 20er Jahren errichtet worden. Ordentliche kleine Wohnungen mit Toiletten im Flur und Gemeinschaftsgärten, in denen im Frühjahr der Flieder blühte.

Klöckner, die Oberbilker Stahlwerke und die Vereinigten Kesselwerke produzierten in Flingern-Süd und Oberbilk. Hier entstand Kriegsgerät für die Nazis, und unten an den Gleisen gleich hinter der Fichtenstraße waren Flakgeschütze postiert. „Wenn die losschossen, flogen bei uns die Tassen aus dem Schrank“, erzählt Manfred Ruhnau.

Die Familie flüchtete dann in ihren Luftschutzkeller im Haus. Bei schlimmeren Angriffen ging es in den Bunker an der Pinienstraße. Wolfgang packte Lebensmittel ein, Manfred kümmerte sich um Henny. „Für sie stand ein Schultornister mit Kissen bereit. Sie war ja noch ein Säugling. Ich legte sie hinein, schnallte mir den Ranzen auf den Rücken und lief los.“

Rund 70 Jahre später, am 8. September 2011 stehen sie wieder vor der Kiefernstraße 8, und sofort fällt ihnen alles ein: der Bäcker im Erdgeschoss, der Windfang im Eingang und die Leute von gegenüber, die im Krieg aus Not ein Pferd in ihrer Wohnung schlachteten.

In der ersten Etage öffnet sich ein Fenster, Turan Bingöl schaut heraus. Er ist zunächst skeptisch, ob er sich für das, was da unten besprochen wird, interessieren soll. „Ach, Sie haben hier gelebt?“ Die Männer kommen ins Gespräch. Wer einmal in der Kiefernstraße gewohnt hat, bleibt lebenslang Mitglied dieser Gemeinschaft.

Der Unterschied ist: Manfred und Wolfgang Ruhnau sind mit dem rebellischen Geist unfreiwillig groß geworden. Sich darauf etwas einzubilden, käme ihnen nie in den Sinn, denn die Sozialromantik, mit der die Kiefernstraße heute vielfach überzogen wird, hat mit der Lebenswirklichkeit der ersten Anwohnergeneration nichts zu tun.

Die Wohnung der vierköpfigen Familie war klein, vielleicht 30 Quadratmeter groß, erst als Henny geboren wurde, bekam sie eine kleine Mansarde unterm Dach dazu. Wolfgang und Manfred spielten als Kinder mit ihren Freunden in zerstörten Häusern. Sie kippten heißen Zucker auf der Fensterbank aus und brachen mit einem Meißel kleine Stückchen des Naschwerks heraus.

Als Wolfgang eines Tages entdeckte, dass Metzger Franke seine Würste in einem ausgebrannten Haus für den Schwarzmarkt versteckte, gab es unverhofft Festtage im Hause Ruhnau.

„Die Kiefernstraße war immer ein Arbeiterviertel“, sagt Wolfgang Ruhnau, „tiefrot und berüchtigt für Kommunisten.“ Weggezogen sei nie jemand, sagt sein Bruder. „Das konnte sich doch keiner leisten.“ Das Leben der Menschen spielte sich vor ihrer Haustür, auf ihrer Straße ab.

Als Kindern sei ihnen ihr Viertel peinlich gewesen. „Wenn wir gefragt wurden, wo wir wohnen, haben wir immer gesagt, hinten bei der Kettwiger Straße.“

Über Flingern-Süd rümpften die Düsseldorfer damals die Nase. Und über die „Streuselkooke-Allee“, wie die Kiefernstraße wegen ihrer Rauputzfassaden genannt wurde, im Besonderen. Dort ging es oft rau zu. Die Schlägereien in der „Goldenen Rose“, einer Gaststätte an der Ecke Fichtenstraße, waren legendär.

Freitags, wenn es Geld gegeben hatte und „Lohntütenball“ gefeiert wurde, herrschte Hochbetrieb, Prügeleien unter Arbeitern waren an der Tagesordnung. „Bei uns hieß die Wirtschaft nur ,Zum blutigen Knochen’“, sagt Wolfgang Ruhnau.

Auch ein Kapitel trauriger Familiengeschichte wurde in der Gaststätte geschrieben. Onkel Ebehard, ein Bruder von Vater Ruhnau und „strammer Kommunist“, trug sein Herz stets auf der Zunge. Als er in der „Goldenen Rose“ eines Tages ein Foto von Adolf Hitler entdeckte, sagt er laut: „Wer hat denn diesen Idioten aufgehängt?“ Noch am selben Tag wurde er von den Nazis verhaftet. Später brachten sie ihn ins KZ Buchenwald. Onkel Eberhard jedoch hatte Glück, er überlebte.

Zurück zum 8. September 2011, immer noch in der Kiefernstraße 8: Die Brüder schauen sich im Treppenhaus um, die alten Steinfliesen mit dem hübschen Muster sind noch da. Ihre frühere Wohnung steht leer, einen Zweitschlüssel besitzt Turan Bingöl nicht, leider. Manfred Ruhnau hat plötzlich Bratenduft in der Nase.

„Weihnachten hatten die Nachbarn aus der Zweiten einmal einen Schäferhund im Ofen.“ Die lungenkranke Tochter habe viel tierisches Fett gebraucht. „Katzen und Hunde gab es damals keine in unserer Gegend“, sagt Wolfgang Ruhnau.

Das Gedächtnis der Brüder malt haargenau die Bilder der Vergangenheit. „Mit den Erinnerungen kommen die Gefühle hoch“, sagt Manfred Ruhnau. Überall im Haus findet er Spuren seines Kinderlebens: den Rest weißer Farbe an der Mauer im Garten, wo der Kaninchenstall des Vaters stand, die Umrisse des Durchbruchs, durch den die Kinder in das leerstehende Nachbarhaus gelangten, der verrostete Wasserkasten auf dem Klo im Flur.

Wieder auf der Straße, betrachten sie die bunten Häuser. „Ich finde das gar nicht so schlecht“, sagt Manfred. „Früher war hier ja alles grau in grau.“ Er zeigt auf Nr. 12. „Hier wohnten die Zarembas“, sagt er und schmunzelt. „Herr Zaremba war auf der Straße nicht gern gesehen. Er hat immer die kranken Arbeiter kontrolliert.“ Frau Zaremba kam bei den Anwohnern nicht besser weg. „Sie war ein Drache. Wir haben sie immer geärgert.“

Wir gehen bis zur „Burg“, einem schönen Haus mit Türmchen, das in der Biegung steht und den Kindern damals das Ende ihrer Welt anzeigte. „Wir durften nur bis zum Lebensmittelgeschäft der Bergs an der Ecke. Weiter nicht“, sagt Wolfgang Ruhnau.

1950 verließ die Familie die Kiefernstraße und zog in ein Häuschen am Starenweg in Unterrath. Die alten Nachbarn sahen sie nie wieder. Auch Jeannette nicht. Einmal im Jahr jedoch, immer am 15. August, kehrt Manfred Ruhnau in Gedanken zurück an sein Dachfenster und blickt auf das Haus von gegenüber. An Jeannettes Geburtstag hat er noch immer gedacht.

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