Frauenhilfe Beschneidung bei Frauen: Wenn das Erlebte ein Tabu ist

Düsseldorf · Beim Verein „Stop Mutilation“ finden Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung Unterstützung. Die Beratungsstelle in Düsseldorf ist eine von nur vier in ganz Deutschland. Jetzt feiert sie ihr zehnjähriges Bestehen.

 Jawahir Cumar ist die Günderin der Beratungsstelle des Vereins „Stop Mutilation“, der in diesem Jahr zehnjähriges Bestehen feiert.

Jawahir Cumar ist die Günderin der Beratungsstelle des Vereins „Stop Mutilation“, der in diesem Jahr zehnjähriges Bestehen feiert.

Foto: Carolin Scholz

Wenn das Telefon von Jawahir Cumar läutet, dann kann es sein, dass sie sich sofort auf den Weg machen muss. Dann liegt vielleicht eine Frau in den Wehen und schaut im Kreißsaal in die verdutzten Gesichter der Ärzte. Mit der Beratungsstelle des Vereins „Stop Mutilation“ unterstützen Gründerin Jawahir Cumar und ihre Kolleginnen Frauen, die Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung geworden sind. Bei Schmerzen, beim Arztbesuch und bei der Verarbeitung des Erlebten. In diesem Jahr feiert die Beratungsstelle zehnjähriges Jubiläum.

Dabei hat ihre Arbeit schon viel früher angefangen. Bei einem Besuch in ihrer Heimat Somalia 1996 bekam Jawahir Cumar die Beerdigung einer Achtjährigen mit, die bei ihrer Beschneidung gestorben war. „Macht ihr das etwa immer noch?“, war ihre erste, erstaunte Reaktion. Ihre eigene Tochter war 1994 geboren – in Deutschland, sicher. „Das hat mich danach nicht mehr losgelassen“, sagt sie heute.

Angefangen mit Arbeit vor Ort, verlagerte sich der Aufgabenbereich mehr und mehr nach Deutschland. Denn mit steigender Einwanderung, gibt es auch hier immer mehr Frauen, die betroffen sind. Terre des Femmes schätzt, dass es 2018 etwa 65 000 Betroffene in Deutschland gab, in NRW sind es demnach etwa 13 500 Frauen. Viele weitere sind davon bedroht, denn die Tradition und das Gefühl, ihr folgen zu müssen, macht nicht vor Landesgrenzen Halt. In NRW ist die Beratungsstelle von „Stop Mutilation“ die einzige – in ganz Deutschland gibt es vier.

Genitalverstümmelung soll Mädchen auf Heiratsmarkt helfen

Ein Mädchen, das nicht beschnitten ist – so die Vorstellung – findet keinen Mann. Ein Mädchen, das keinen Mann findet, wird nicht versorgt, ist nicht gut aufgehoben, ist ausgegrenzt. „Die Beschneidung ist nicht nur eine finanzielle Absicherung für das Mädchen, sondern für seine ganze Familie“, sagt Jawahir Cumar. Die Mütter müssten ihre Töchter beschneiden lassen, auch wenn es mit Schmerzen verbunden ist und sie das selbst erlebt haben. Die Gesellschaft erwarte es so. Es sei ihre Tradition, die seit Tausenden von Jahren praktiziert worden ist. Die Ursprünge liegen irgendwo zwischen Mythen und Fehlinformation – und in der Unterdrückung von weiblicher Sexualität. Außerdem gilt nur ein beschnittenes Mädchen als rein und schön.

Mit Religion hat das übrigens wenig zu tun. Weder in islamischen, noch in christlichen Schriften kommt Beschneidung vor – die erste ist vor Entstehung der Weltreligionen dokumentiert. Besonders verbreitet ist der Vorgang in 29 Ländern Afrikas, aber auch in Südostasien und dem Nahen Osten kommen Beschneidungen an Frauen vor. Meist im Kindes- oder Jugendalter, immer wieder auch noch als Kleinkinder.

Doch selbst wenn die Frauen irgendwann nach Europa oder eben nach Deutschland kommen, bleibt das Erlebte ein Tabu. „Erzähl es niemandem“, wird ihnen oftmals von Familie und Umfeld eingeschärft. Wenn die Beschneidung in sehr jungem Alter stattgefunden hat, wissen viele auch nicht, dass bei ihnen etwas anders ist, als bei anderen. Dabei spüren sie die Folgen täglich. Schon beim Toilettengang. Und natürlich, wenn sie sexuell aktiv sind. Je nach Grad der Beschneidung kann es sein, dass das gesamte äußere Geschlechtsorgan verstümmelt und sogar zugenäht wird – denn Schmerzen beim Geschlechtsverkehr sollen den Mann davor schützen, dass die Frau Ehebruch begeht.

„Hier kommt keine Frau herein und sagt: Hallo, ich bin beschnitten“, sagt Jawahir Cumar. Oftmals kämen sie mit Schmerzen. Oder, weil ihr Frauenarzt sie weggeschickt habe. In Deutschland gehört Wissen über Genitalverstümmelung bei Frauen nicht zur Lehre im Medizinstudium. Je nachdem, nach welchem Typ, also zu welchem Grad die Frauen beschnitten sind, reichten die Reaktionen der Mediziner von „Sie sind doch gar nicht beschnitten“ bis zu Ratlosigkeit: Wie soll diese Frau ihr Kind gebären?

Gerade die erste Aussage ist für viele betroffene Frauen schwer zu ertragen. Dass ihre Verletzung nicht anerkannt oder ernst genommen wird. In der Beratungsstelle gibt es deshalb auch eine medizinische Beratung. Der Gynäkologe Dr. Christoph Zerm habe viel Erfahrung mit Frauen, die betroffen sind und könne weiterhelfen. Die Anerkennung ist dabei nicht nur für das eigene Verarbeiten wichtig – oftmals geht es auch darum, dass Frauen beim Asylantrag angeben und nachweisen können, was ihnen passiert ist. Besonders, wenn sie Töchter haben – denn ihnen droht bei einer Abschiebung das gleiche Schicksal.

Wichtiger Teil ihrer Arbeit ist für Jawahir Cumar aber auch die Aufklärung. Hier und in den Ländern, in denen die Praxis Tradition ist. So werden Beschneiderinnen gefördert, die einen anderen Beruf ergreifen wollen, außerdem wird an der Bildung der Mädchen gearbeitet. „Wir versuchen, zu erklären, dass wenn die Mädchen ausgebildet sind, sie nicht mehr von einem Ehemann abhängig sind. Und somit auch nicht beschnitten werden müssen.“ Auch hier werde versucht, mehr Wissen ums Thema zu verbreiten. Damit Kinderärzte ihren Blick schärfen und Frauenärzte besser Bescheid wissen. Aber auch, dass etwa Lehrer besser sensibilisiert sind – für den Fall, dass eine Familie im Sommer in die Heimat fährt, um ein Ritual durchführen zu lassen.

Außerdem klären Jawahir Cumar und ihre Kolleginnen die Betroffenen auch darüber auf, welche Möglichkeiten sie medizinisch haben. Selbst bei dem Typ Beschneidung, der am weitesten greift, ist eine Rekonstruktion möglich. Und die zahlt – dank Einsatz der Aktivistinnen – inzwischen auch die Krankenkasse. „Die Frauen fühlen sich nach dieser OP oft wie neu geboren“, sagt Jawahir Cumar. Und dabei geht es nicht nur um ihre Sexualität, sondern auch darum, ganz normal zur Toilette gehen zu können.

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