Stadt-Teilchen Die Verheißung der Kaugummiautomaten

Düsseldorf · Es gibt sie noch: Relikte aus einer anderen Zeit. Eine Hommage von Hans Hoff an Kaugummiautomaten.

 Diese beiden Kaugummiautomaten stehen an der Gerresheimer Straße . 

Diese beiden Kaugummiautomaten stehen an der Gerresheimer Straße . 

Foto: Zanin, Melanie (MZ)

Ich war auf großer Expedition. Wochenlang. Immer wieder bin ich durch die Stadt gestreift auf der Suche nach einer ausgestorben gewähnten Spezies, nach einer, die nach meinem Glauben möglicherweise vom Zahn der Zeit gnadenlos zermahlen wurde. Ich machte mir wenig Hoffnung auf Entdeckung, aber dann wurde ich doch noch fündig. Es gibt sie noch, wenn auch ihr Aussehen suggeriert, dass der Zeitzahn mehr als nur einmal zugebissen haben muss.

Es geht um Kaugummiautomaten. Die waren mal Orte der Verheißung, der unmittelbaren Lusterfüllung, des schnellen schuldigen Vergnügens. In einer Zeit, da noch nicht überall Schokoladenriegel auslagen und nicht an jeder Ecke überzuckerte Koffeinbomben angeboten wurden, markierten Kaugummiautomaten für mich eine Raststätte auf dem Weg zum infantilen Paradies.

 WZ-Kolumnist Hans Hoff.

WZ-Kolumnist Hans Hoff.

Foto: NN

Kaugummiautomaten waren mal ganz groß, eine Einschätzung, die wohl vor allen Dingen der Tatsache geschuldet ist, dass ich mal ganz klein war. Meine ersten Kaugummiautomatenerlebnisse rühren aus einer Zeit, als ich mich noch auf die Zehenspitzen stellen musste, um ein Geldstück in den vorgesehenen Schlitz zu applizieren. Ich meine, es wären zehn Pfennig gewesen. Oder waren es nur fünf? Egal, es war aus meiner kleinen Sicht auf jeden Fall ein Vermögen.

Für fünf Pfennig gab es im Normalfall ein oder zwei Kugeln süße Kaumasse, die den kindlichen Hormonhaushalt mal so richtig in die Höhe putschten. So eine Kugel zwischen die Zähne zu nehmen, sie mit sanftem Druck zu malträtieren, bis sie mit unhörbarem Knack endlich nachgab und ihre schaumige Zuckrigkeit in meine Mundhöhle verteilte, das war immer wieder ein Erlebnis.

Das war oft auch Trost, weil es um das Süße eigentlich gar nicht ging. Kaugummiautomaten waren gerne auch kleine Lotteriestellen, denn mit ein bisschen Glück purzelte nicht nur eine Süßkugel in den Ausgabeschlitz, sondern auch ein kleiner Ring oder sonst etwas höheren Wert Verheißendes.

Meist waren die Ringe im winzigen Schaufenster ganz vorne drapiert, so dass man als junger Naivling leicht annehmen konnte, dass sich dahinter noch ganz viele Ringe befänden. Natürlich war das der übliche Betrug am kleinen Kunden, denn nur sehr, sehr selten kullerte mal wirklich ein Ring nach draußen.

Aber um den Ring ging es letztlich gar nicht, es ging um die Aussicht auf den Ring, um den Traum bald schon ein kleiner Herr des Ringes zu werden. Dieser Traum war groß und mächtig und beflügelte das Kinderhirn zu Ausflügen in wundersame Phantasiewelten. Dem vermochte der wirkliche Gewinn wenig entgegenzusetzen. Hatte man nämlich wirklich mal, was sehr, sehr selten vorkam, einen Ring ergattert, erwies er sich als Billigplunder, der schon bald verlorenging, weil man merkte, dass die eingetretene Realität gegen den vorher gelebten Traum keine Chance hatte.

An all das musste ich denken, als ich nun die Gerresheimer Straße entlang schlenderte und an der Bahnunterführung sah, was ich lange gesucht hatte: einen Kaugummiautomaten. Nicht einen, gleich zwei hingen da. Ein Pärchen. In freier Wildbahn zwischen Unterführung, Stromkasten und Aldi-Parkplatz.

Ich sah gleich, dass die Jahre diesem Pärchen schon arg zugesetzt hatten. Beide Kästen sind bekritzelt, beschmiert und zeigten Spuren von Gewaltanwendung. Dazu kommen jene eisernen Vorrichtungen, die verhindern sollen, dass die Geräte allzu leicht auszurauben sind.

Die machten es mir erst einmal schwer, mein natürlich sofort hervorgeholtes Geld loszuwerden. Ich bin inzwischen alt und aus der Sicht eines, sagen wir mal Vierjährigen, sicherlich ein schwer reicher Mann. Wenn ich was will aus dem Automaten, dann hole ich es mir.

Der linke Automat bietet die üblichen Süßkugeln an. Etwas größer sind sie als früher, dafür gibt es nur eine, und die kostet auch noch 20 Cent. Gegenüber den fünf Pfennig von früher scheint das viel zu sein, aber wenn man bedenkt, dass meine Erinnerungen an die seligen Kaugummiautomatenerlebnisse schon weit über 50 Jahre alt sind, wirkt der Preis nachgerade heiß.

Dreimal fiel mir das 20-Cent-Stück auf den Boden, weil ich es mit meinen Wurstfingern nicht schaffte, das Geld in den Schlitz zu befördern. Das muss ein bisschen komisch ausgesehen haben, wie sich da ein älterer Herr an dem Kindergerät zu schaffen macht, aber mir war das in dem Moment komplett egal. Ich schaffte es schließlich, das Geld einzuwerfen, drehte den magischen Drehknopf, und klapperklapper rollte meiner vorsorglich vor den ein wenig ramponiert wirkenden Ausgabeschlitz gehaltenen Hand eine als „Big Bubble“ angepriesene Kugel in glänzendem Gelb entgegen, die ich sogleich in meinen Mund beförderte, weil ich mich auch noch dem Nachbarschlitz widmen wollte.

Bei dem muss man 50 Cent einwerfen und bekommt dafür nicht einmal etwas Süßes. Stattdessen purzelt ein Plastikkügelchen heraus, gefüllt mit einem klebrigem Stück Plastik, das als „Sticky Spinnennetz“ deklariert ist mit einer schlecht zu erkennenden Spinne drin. Das wirkte nach dem Auspacken in seiner Gesamtanmutung so billig, dass dagegen das umhüllende Plastikkügelchen sofort wie der größere Wert wirkte. Keine Frage, das war so dreckig wie der ganze Kasten wirkte.

Zu meiner Enttäuschung über die blöde Plastikspinne kam der Geschmack des „Big Bubble“. Ich war umgehend davon überzeugt, in der nächsten Minute zuckerkrank zu werden. Der Geschmack näherte sich zudem rasch einem Eindruck, der mich wissen ließ, wie Urinsteine schmecken könnten. Nach drei Minuten war das oberflächlich Süße weg, und das, was mal Kugel gewesen war, verwandelte sich in einen zementartigen Klumpen, der sofort die Angst keimen ließ, ihn versehentlich herunterzuschlucken und sich damit das Gedärm auf Tage zu blockieren. Ich nahm die Überreste aus dem Mund und schaute auf ein Gebilde, das dem ausgefallenen Backenzahn eines Kampfrauchers ähnelte.

Als ich schon dachte, ich hätte den Gipfel der Ekligkeit erreicht, kam es noch schlimmer. Ein furchtbarer Nachgeschmack stellte sich ein. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht,  dass er über Stunden nicht mehr weggehen wollte.

Ich schaute auf den Automaten und notierte mir den klein angebrachten Warnhinweis. „Kann Aktivität und Aufmerksamkeit bei Kindern beeinträchtigen“, stand da, und darunter waren bis auf E605 so ziemlich alle Zusatznummern verzeichnet, die ich als meinem Körper nicht zuträglich klassifizieren würde. Was können die erst bei Kindern anrichten?

Ich stand also da auf der Gerresheimer Straße zwischen Stromkasten und Unterführung, und ich muss sehr bedröppelt ausgesehen haben. Eben noch die große Freude über die Wiederentdeckung meines einst großen Freundes. Und nun der Absturz in die traurige Jetztzeit. Es türmten sich Fragen auf. War das Kaugummi in meinen Kindheitstagen von besserer Qualität? Oder steckt ein junger Körper solche Süßattacken besser weg? Liegt die Ekelschwelle bei Kindern niedriger als bei älteren Herren?

Ich trottete traurig von dannen und versuchte, mit dem Nachgeschmack fertig zu werden. Ich hatte gelernt. Nicht alle Begegnungen mit früher sind automatisch schön. Mir kam ein Freund von ganz früher in den Sinn. Der hatte mir kürzlich mal auf den Anrufbeantworter gesprochen und wie nebenbei gefragt, ob wir uns mal treffen und die alten Tage noch einmal aufleben lassen sollten. Ich spürte dem ekligen Nachgeschmack in meinem Mund nach. Ich beschloss, ihn nicht zurückzurufen.

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