Schule „Der Arbeitsalltag an Schulen ist viel herausfordernder als früher“

Düsseldorf · Lehrermangel, heterogene Schülerschaft, Eltern, die mit dem Anwalt drohen – die Arbeitsbedingungen an Schulen haben sich stark verändert. Psychologin Anja Niebuhr weiß, was das mit der Psyche der Lehrer macht.

 Diplom-Psychologin und Abteilungsleitung Anja Niebuhr im Zentrum für Schulpsychologie.

Diplom-Psychologin und Abteilungsleitung Anja Niebuhr im Zentrum für Schulpsychologie.

Foto: Ines Arnold

Seit 60 Jahren finden Schüler, Eltern und Lehrkräfte im Zentrum für Schulpsychologie Beratung zu sämtlichen Schulthemen und Hilfen bei Problemen. Daneben bietet das Zentrum Lehrern auch Supervision, Coaching sowie Hilfen bei der Gewaltprävention.

Frau Niebuhr, Sie und Ihr Team sind Ansprechpartner für Eltern, Schüler und Lehrer. Von welcher Personengruppe werden Sie am meisten nachgefragt?

Anja Niebuhr: Die Einzelfallanfragen von Eltern und Schülern sind seit Jahren konstant. Es sind etwa 1000 Neuanmeldungen pro Jahr. Gestiegen ist der Beratungsbedarf der Lehrkräfte. Es gibt deutlich mehr Supervisions-Gruppen als früher, seit 2007 haben wir diesen Schwerpunkt ausgebaut, weil die Nachfrage jährlich weiter steigt.

Warum nehmen Lehrer die Beratung in Anspruch?

Niebuhr: Der Arbeitsalltag an Schulen ist viel komplexer und herausfordernder als früher. Der Lehrerberuf hatte lange etwas klar Strukturiertes, der Lehrer hatte seine feste Klasse und auch eine ganz andere Rolle als es heute der Fall ist – es gab mehr Respekt, mehr Würdigung. Heute müssen Lehrer viel mehr leisten als die reine Wissensvermittlung. Es geht darum, den Erziehungsauftrag mit den Eltern zu teilen. Es gibt gesellschaftlich eine sehr hohe Erwartung, was Schule alles leisten soll. Gleichzeitig ist die Schülerschaft heterogener geworden.

Was sind konkrete Themen, mit denen sich Lehrer an Sie wenden?

Niebuhr: Nach 2017 hatten Lehrer verstärkt die Situation, dass sich kulturelle Konflikte in den Klassen widerspiegelten, ein kurdischer Junge und ein syrisches Mädchen oder ein israelisches und ein palästinensisches Kind in einer Klasse saßen und sich beschimpften. An den weiterführenden Schulen ist so etwas immer noch ein Thema. Auch Antisemitismus, judenfeindliche Sprüche und Schmierereien, Hitlerzeichen – Lehrer müssen sich dabei klar positionieren und Haltung zeigen. So etwas nicht als Streich abtun, sondern Grenzen aufzeigen. Eine äußerst verantwortungsvolle Aufgabe.

Was macht das mit der Psyche?

Niebuhr: Viele Lehrer sind sehr engagiert und fühlen sich ihren Schülern verpflichtet. Dabei erkennen sie teilweise ihre persönliche Grenze nicht, sie arbeiten auch abends und am Wochenende weiter, schalten schlecht ab. Das kann schnell in Richtung Burnout gehen.

Macht die Schulform da einen Unterschied?

Niebuhr: Nein, jede Schulform hat eigene Herausforderungen. An der Hauptschule ist der erzieherische Anteil von Schule höher, da geht es darum das gut im Team umzusetzen. Aber auch an einem Gymnasium haben sich die Anforderungen geändert, weil die Schülerschaft dort heterogener geworden ist. Weil viele Kinder heute von ihren Eltern aufs Gymnasium geschickt werden, die früher vielleicht doch eher auf einer Real- oder Hauptschule gewesen wären.

Was ist mit dem Thema Inklusion. Welche Rolle spielt es bei der Belastung von Lehrkräften?

Niebuhr: Die Entscheidung zum gemeinsamen Lernen von behinderten und nicht behinderten Kindern an Regelschulen kam unvermittelt und wurde sehr schnell umgesetzt. Das bedeutete eine extreme Herausforderung für Schulen. Viele Lehrer wurden auch zum ersten Mal damit konfrontiert, dass eine andere Fachperson mit im Unterricht sitzt, dass im Team am Kind gearbeitet wird. Politisch ist nicht bedacht worden, dass so eine Veränderung begleitet werden muss und Zeit braucht.

Sie sprachen davon, dass Lehrern heute weniger Respekt entgegengebracht wird. Auch von Eltern?

Niebuhr: Konflikte zwischen Eltern und Lehrer gab es immer, das Ausmaß hat sich aber verändert, sie eskalieren heute schneller. Früher überließen Eltern der Fachkraft die Einschätzung der Leistung oder des Sozialverhaltens des Schülers, traten selbst in den Hintergrund. Heute wird mit dem Anwalt gedroht, wenn Eltern eine Note auf dem Zeugnis nicht passt. Es ist für Lehrkräfte viel schwieriger, eine Allianz mit den Eltern einzugehen, um das Kind gut zu begleiten und zu entwickeln.

Gilt das auch für Konflikte zwischen Schülern?

Niebuhr: Ja, Eltern sind sehr schnell auf der Seite ihres Kindes. Das sollen sie ja grundsätzlich auch sein. Und normal ist es auch, dass Kinder zu Hause nicht alles erzählen. Eltern sind aber heute viel weniger erreichbar dafür, sich die andere Seite anzuhören. Nämlich die des Lehrers, die des anderen Schülers.
Und sie wollen die Sache selbst regeln und überlassen es nicht mehr den Lehrern, die Konflikte zu klären. Dabei ist Mobbing immer ein systemisches Problem und muss in der Gruppe geklärt werden.

Stichwort Mobbing. Wie ist Ihr Eindruck, gibt es mehr Mobbing an den Schulen?

Niebuhr: Die Fallzahlen bei uns steigen nicht, die Dimension und Tiefe der Fälle ist aber eine andere. Sie sind massiver und härter, es geht in Richtung Straftatbestände, körperliche Angriffe, Anziehsachen oder Rucksäcke werden zerstört.
Beim Mobbing unter Schülern gibt es oft eine Kopplung an soziale Medien. Negative Texte werden online verbreitet, ein Foto wird gegen den Willen weitergeleitet.

Sie betonten gerade „beim Mobbing unter Schülern“, gibt es denn auch Mobbing, bei dem Lehrer betroffen sind?

Niebuhr: Ja, die gibt es. Und es sind oft Fälle, die besonders heftig sind und auch bei uns intern für Fassungslosigkeit sorgen. Die Fälle reichen von negativen Texten, die über Lehrer ins Netz gestellt werden bis hin zu körperlichen Attacken von Jugendlichen und Eltern gegen Lehrkräfte.
Aber auch hier ist es so, dass es Mobbing von Lehrern ganz sicher auch schon früher gab, heute sind die Fälle extremer. Und man spricht darüber.

Haben Sie genügend Zeit für den gestiegenen Beratungsbedarf?

Niebuhr: Wir sind in Düsseldorf mit dem Zentrum für Schulpsychologie und unseren insgesamt 20 Schulpsychologen-Stellen sehr gut aufgestellt. Im Schnitt betreut eine Vollzeitstelle zwölf Schulen, damit können wir die Anfragen gut bedienen.

In welchem Zeitrahmen kommen Sie Anfragen nach?

Niebuhr: Wenn sich jemand im Sekretariat telefonisch meldet, sichern wir einen Rückruf, einen ersten fachlichen Kontakt, innerhalb von fünf Werktagen zu. Einen Termin gibt es dann auch zeitnah, niemand muss monatelang warten.
Wenn es um Kinderschutz geht, reagieren wir spätestens nach zwei Werktagen und bei akuten Krisen an der Schule am gleichen Tag.

Was raten Sie Lehrern, Schülern, aber auch Eltern in Bezug auf Ihre Hilfsangebote?

Niebuhr: Sie frühzeitig in Anspruch zu nehmen. Mir ist es wichtig zu betonen, dass wir hier natürlich vor allem die Extreme sehen, schließlich ist das ja unser Job. Aber wir sehen in unseren Supervisionen auch, wie viele Schulen gute Konzepte mit gut funktionierende Teams entwickelt haben.

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