NRW Wie die Düssel zum Gegenspieler wurde

Eller · Was heute eine neue Erfahrung ist, war für den Düsseldorfer in früheren Jahrhunderten der Normalfall. Das alle Jahre wiederkehrende Hochwasser der Düssel trennte auch die Innenstadtbürger von denen in den Randlagen.

 Ebenfalls in Eller, 1925: Das Hochwasser der Düssel überflutete Äcker, Wiesen oder Straßen.

Ebenfalls in Eller, 1925: Das Hochwasser der Düssel überflutete Äcker, Wiesen oder Straßen.

Foto: Stadtarchiv Düsseldorf

Wie Ebbe und Flut zum Meer gehören Niedrig- und Hochwasser zu einem Fluss. Und, oft vergessen, auch zu Bächen. Während das überflutete Rheinwerft oder die überschwemmte Urdenbacher Kämpe für Generationen von Düsseldorfern am Rhein ein vertrauter Anblick sind, erlebten vor zweieinhalb Wochen auch viele Alteingesessene erstmals, was es bedeutet, wenn Brückerbach, Kittelbach oder Düssel rasch anschwellen und über die Ufer treten. Fast 100 Jahre hat die Düssel im Düsseldorfer Stadtgebiet, mit wenigen Ausnahmen und geringen Folgen, ihr Bett nicht mehr verlassen. Bis zu jenem Mittwoch.

Was heute eine neue Erfahrung ist, war für den Düsseldorfer in früheren Jahrhunderten der Normalfall: das alle Jahre wiederkehrende Hochwasser der Düssel. Eintragungen in Kirchenchroniken, Schadenserhebungen der Verwaltung und Bittschreiben von Geschädigten vermitteln einen guten Eindruck davon, was Wassernot über die Jahrhunderte in Gerresheim, Eller, Pempelfort und Bilk bedeutete.

Auffällig ist, dass die von der Düssel berührten Ortschaften vom Hochwasser oft heimgesucht, die Schäden hier aber nur für wenige Anrainer existenziell waren. Meist ergoß sich das Hochwasser der Düssel vor der Alt- oder Carlstadt, wo der Bachlauf schon reguliert war, im Vorland über Äcker, Wiesen oder Gärten. Nur selten wurden Gebäude zerstört.

Launig schrieb Anton Fahne, Hausherr der Rolandburg, über das Düsselhochwasser 1870: „Von November bis December, wo das ganze Mörsenbroich und alles was zwischen Grafenberg, Flingern und Eller liegt, eine Wasserfläche bildete, aus der nur die Chaussee von Grafenberg bis Flingern auftauchte, konnte man von Derendorf bis Eller und weiter ununterbrochen Schlittschuh laufen“.

Bis weit ins 19. Jahrhundert waren hochwassergefährdete Gebiete vor und um Düsseldorf kaum oder gar nicht besiedelt. Dabei blieb es aber nicht. Nach 1850 langsam, seit den 1870er-Jahren schneller und bis zum Ersten Weltkrieg rasant, verdichtete sich in Gerresheim, Grafenberg, Eller, Pempelfort, Düsseltal und Bilk die Bebauung. Die wachsende Bevölkerung brauchte Platz und rückte beim Häuser- und Siedlungsbau immer näher an die nördliche und südliche Düssel heran. Auch in hochgefährdete Gebiete und mit Folgen.

Früher als Naturphänomen begriffen, wurde Hochwasser nun als Naturkatastrophe und Bedrohung für Hab und Gut empfunden. Die Symbiose von Natur und Mensch, von Düssel und Düsseldorfer kippte – die Düssel wurde zum Gegenspieler. Mit Beginn der 1880er-Jahre errichteten die Stadt Düsseldorf und die Bürgermeistereien Gerresheim und Eller ein immer ausgeklügelteres Verteidigungssystem gegen das Hochwasser.

Am Südlauf in Vennhausen, Eller, Stoffeln, Wersten und Bilk wie auch am Nordlauf in Gerresheim, Grafenberg, Düsseltal und Pempelfort gab es massive Eingriffe in das natürliche Bachprofil. Über weite Strecken wurde die Düssel vertieft, verbreitert, begradigt, kanalisiert, verlegt – je nach Notwendigkeit. Hinzu kamen Dämme, Deiche, Schleusen, Spaltwerke, Stauwerke und Ableitungen.

Um 1910 galt die Düssel als gezähmt. Zumindest auf dem Papier. Denn in Wirklichkeit war das Risiko nur verlagert, da der Hochwasserschutz nicht gleichmäßig verteilt und wirksam war. Entsprechend dem Einfluss in Rat und Verwaltung genoss der Hochwasserschutz für die Alt- und Carlstadt höchste, für Pempelfort und Bilk hohe und für die Außengemeinden Eller, Grafenberg und Gerresheim leidliche Priorität. Anders gesagt: Bevor die Alt- und Carlstadt von der Düssel überschwemmt wurden, nahm man lieber in Kauf, die lobbyärmeren Vororte zu fluten.

Der Ärger zwischen Innen- und Außenbürgern war progammiert, kam aber nicht zum Ausbruch, da es keine außergewöhnlichen Überschwemmungen mehr gab. Bis zum Jahr 1925. Da wurde ganz Eller von der Düssel unter Wasser gesetzt und in ein Klein-Venedig verwandelt.

Schuld an der Sintflut war allerdings nicht die Stadt, sondern die Reichsbahn. Starke Regenfälle im Bergischen und in Düsseldorf hatten der Düssel außergewöhnlich große Wassermassen zugeführt. Vermutlich hätte das Wasser ohne Schaden in den Rhein abgeführt werden können, wäre zu dieser Zeit nicht gerade am Spaltwerk Höherhof, wo sich die Düssel teilt, der Zulauf in den nördlichen Arm um 75 Prozent reduziert worden.

Veranlassung zur Drosselung gab der Bau einer neuen Eisenbahnbrücke über die Düssel an der Altenbergstraße. Da die Reichsbauverwaltung fürchtete, dass mit Öffnung der Schleuse zur nördlichen Düssel die im Bau befindliche Düsselquerung in Grafenberg einstürzen könnte, durfte die Stadt Düsseldorf, trotz mehrfachen Bittens, die Schieber am Höherhof nicht öffnen.

Die Folgen waren fatal. Die zusätzlichen Wassermengen der Norddüssel und der anhaltende Dauerregen ließen die südliche Düssel schon hinter dem Höherhof gefährlich anschwellen und lösten in Eller am 4. Januar 1925 eine Sintflut aus. Der ganze Stadtteil war überflutet: Von der Vennhauser Allee über die Gumbertstraße bis zum Hackenbruch und vom Straußenkreuz über die Scheidlingsmühle bis nach Stoffeln. Hunderte Keller liefen voll. Hausrat, Brennmaterial, Verkaufslager, alles war vernichtet.

Nur wenige hatten Glück – wie der Bäcker Wilhelm Karras, der mit Hilfe der Feuerwehr seine Mehlvorräte rechtzeitig in Sicherheit brachte. Die Gumbertsraße war tagelang unpassierbar. Es half wenig, dass die Bevölkerung von der Stadtverwaltung vorher gewarnt worden war, und es tröstete wenig, dass die Geschädigten von der Stadt nachher finanzielle Hilfen in Aussicht gestellt bekamen. Amtlich ließ die Stadt nach dem Abfließen der Schlammbrühe verlautbaren: „Zunächst muß durch einen Ausschuß die Höhe der Sachschäden festgestellt werden; das weitere wird sich dann finden“.

Glaubt man den Erzählungen in Eller, hat sich „das Weitere“ allerdings bis heute noch nicht gefunden.

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