Kolumne Auf langen Wegen zu kurzen Straßen

Düsseldorf · Wie man die fünf kürzesten Straßen der Stadt entdeckt und dabei als Fahrrad-Flaneur im Zick und Zack dem Ziel entgegenfährt. Eine pedalierende Entdeckungsreise – mit Plan, ohne App.

 Der Speckmannweg in Stockum ist Düsseldorfs kürzeste Straße.

Der Speckmannweg in Stockum ist Düsseldorfs kürzeste Straße.

Foto: Sebastian Brück

Eigentlich sollte man angenehm lesbare Texte nicht mit Zahlen beginnen – und wenn schon, dann maximal mit zweien. Aber: Heute ist unser „Zahltag“, heute ist die Ausnahme. Die Zahlen, die die nächsten drei Stunden bestimmen werden, lauten 36 und 46 und 47 und 52 und noch mal 52. Und, nein, es handelt sich nicht um die Altersangaben der fünf Stammleser dieser Kolumne. Sondern um Meter. Insgesamt 233.

Mein rennradfahrender Freund P. wartet schon an unserem Treffpunkt, als die Tour beginnt: der Aquazoo-Parkplatz. Das Konzept klingt einfach: Ich habe mir vom Verkehrsamt eine Liste der 20 kürzesten Straßen der Stadt schicken lassen, und die „Top5“, deren Länge beziehungsweise Kürze ich oben aufgezählt habe, wollen wir nun entdecken. Per Rad, von der kürzesten Straße zur jeweils weniger kurzen.

„Warum machen wir das eigentlich?“, fragt mein bester Freund P., während wir über die Kaiserswerther Richtung Norden fahren.

„Neues entdecken?“, gegenfrage ich. „Oder kennst du die Straßen alle schon?“

„Von den fünf kürzesten kenne ich eine“, sagt P., während er die Straßen-Liste betrachtet. „Und Du?“

„Zwei“, sage ich. „Aber zu denen kommen wir später.“

Station 1: Speckmannweg, Stockum, 36 Meter

Vom Speckmannweg, den wir kurz darauf erreichen, haben wir beide noch nie gehört. Stockumer Osten, eingeklemmt zwischen Kaiserswerther Straße und Danziger Straße. Hierhin kommt man nicht per Zufall. Keine Straßenbahnhaltestelle, kein Nordpark, keine Messe, keine Arena. Stattdessen: Ein Wohngebiet mit Ein- oder Mehrfamilienhäusern, ein paar Reihenhäuser, einige Wohnanlagen – die meisten Gebäude augenscheinlich in den 1950ern oder 1960ern erbaut. Gärten. Zäune. Bäume. Inmitten dieser unspektakulären Umgebung stehen wir also vor der kürzesten Straße der Stadt Düsseldorf. 36 Meter lang.

Mein bester Freund P. macht Speckmannweg-Fotos: vom Straßenschild an der Ecke Ganghoferstraße. Von der Stichstraße. Von der Gaslaterne.

Es gibt von 1 bis 7 nummerierte Häuser in freundlichen Farben. Es gibt eine Rasenfläche am Straßenrand. Und es gibt Parkplätze. Einen Bürgersteig gibt es nicht. Fast privat wirkt es – dieses Sträßchen, und wir müssen uns überwinden, ein paar Schritte „hinein“, Richtung Sackgasse zu machen.

„Warum heißt der Speckmannweg eigentlich Speckmannweg?“, fragt mein bester Freund P., als wir unsere nicht mal einminütige Speckmannweg-Begehung hinter uns haben.

Ich frage Google, doch Google hat keine Antwort. Weil Straßennamen oft „konzeptionell“, sprich block- bis viertelmäßig vergeben werden, schauen wir uns die Umgebung an: Von den Straßennamenpaten kennen wir nur Theodor Storm und Wilhelm Busch. Wir finden heraus, dass der bayerische Heimat-Schriftsteller Ludwig Ganghofer für die Ganghoferstraße verantwortlich sein könnte. Vermutung: Wir befinden uns in einer Art Heimat-Literaten-Viertel. Doch was ist mit Speckmann? Wikipedia schlägt uns acht Speckmanns vor, und wir beschließen, dass thematisch weder der 1963 geborene US-Amerikaner Paul Speckmann – Mitbegründer des Death Metal –, noch die 1989 geborene deutsche Fußballerin Sonja Speckmann – 25 Erstligaspiele für den Herforder SV – als Namenspaten in Frage kommen. Sondern am ehesten: der 1872 geborene und 1938 verstorbene Diedrich Speckmann. In seinem Wikipedia-Eintrag lesen wir, dass er im Oktober 1933 zu den 88 (passender könnte die Zahl nicht sein!) Schriftstellern gehörte, die ein Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichneten.

„Kann das wirklich sein, dass nach so einem Typen immer noch Straßen benannt sind?“, unterbricht mein bester Freund P. die Speckmannweg-Stille.

„Mich würde vielmehr interessieren, ob der Speckmannweg vor oder nach 1945 benannt wurde“, sage ich.

Bevor wir uns auf die Räder schwingen, um zur nächsten Kurze-Straße-Station nach Gerresheim zu radeln, noch ein „Fun Fact“ zum Auflockern: Die Sackgasse des Speckmannwegs, der kürzesten Straße Düsseldorfs, zeigt genau auf die hinter Büschen und Bäumen verborgene, aber nicht allzu weit entfernte längste Straße der Stadt: die Danziger Straße, 19 725 Meter lang, von Düsseldorf-Golzheim Richtung Duisburg reichend, 548 mal so lang wie der Speckmannweg.

Station 2: Flachsmarkt, Gerresheim, 46 Meter

Weiter zur nächstkürzeren Station: Von Stockum aus radeln wir über Unterrath, Mörsenbroich und Grafenberg nach Gerresheim. Fahren ohne App, immer der „Nase“ nach. Entdecken dabei weitere Straßen, die wir noch nie gesehen haben. Brauchen 35 Minuten. Parken unsere Fahrräder schließlich am Ziel: Der Flachsmarkt ist eine Art Fußgängerzone im Herzen von Gerresheim, mit der Basilika St. Margareta im Hintergrund. Es gibt die Rats-Apotheke. Es gibt Pizza, Gyros, Nudeln und hausgemachten Mittagstisch „Bei Ulla“. Es gibt Haarmoden im Friseursalon Gerta Herbertz. Es gibt italienische Küche mit Außenterrasse im Ristorante L’Arte in Cucina. Und es gibt eine „Photolounge“ mit einem „Passbilder sofort für jeden“-Aufsteller vor der Tür. Und bevor wir es vergessen: Eben dieser Flachsmarkt ist 46 Meter lang und liegt damit auf Platz zwei der städtischen Kurze-Straßen-Hitparade. Mein so modeaffiner wie klugscheißender Freund P. vermutet: „Der Name hat sicher was mit Flachs, also Leinen zu tun, das war nämlich der Vorgänger der Baumwolle.“

Station 3: Marktstraße, Altstadt, 47 Meter

Da wir nur einen Nachmittag Zeit haben für unsere Kurze-Straßen-Tour, steigen schon nach wenigen Flachsmarkt-Minuten wieder auf die Räder und erreichen quer durch Flingern und Pempelfort eine halbe Stunde später die Altstadt. Dort treffen wir auf die drittkürzeste Straße Düsseldorfs – die einzige aus unserer „Top5“-Liste, die wir beide vorher kannten: Die Marktstraße schafft 47 Meter und verläuft zwischen Marktplatz und dem Uerige. Ihr „Portfolio“: Modeläden, Cafés, ein alteingesessenes Fachgeschäft für Saatgut – und die in den Arkaden untergebrachte Touristeninformation.

„Könnte glatt sein, dass die Marktstraße die älteste unter den kürzesten Straßen der Stadt ist“, verkündet mein bester Freund P.

„Könnte glatt sein, dass die Marktstraße nicht nach einem Nazi-Sympathisanten benannt ist“, sage ich.

Station 4: Emma-Horion-Weg, Altstadt, 52 Meter

Genau einen Kilometer nördlich der Marktstraße schieben wir kurz darauf unsere Räder an den Gebäuden der Kunstakademie entlang – und treffen auf den Emma-Horion-Weg. Die 1889 geborene Emma Horion war sicher keine Nazi-Sympathisantin, ist quasi das Gegenstück zu Diedrich Speckmann. Sie engagierte sich für den Katholischen Deutschen Frauenbund in der Bildungsarbeit und geriet während des Dritten Reichs wiederholt in Konflikt mit der Gestapo, weil sie Rassenlehre und Frauenpolitik der NS-Diktatur ablehnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Mitbegründerin des Düsseldorfer ASG-Bildungsforums. „Ihre“ Straße ist benennungstechnisch die jüngste unserer Kurze-Straßen-Top5: Emma Horion starb 1982.

„Kommt mir viel kürzer vor als 52 Meter die Strecke“, sage ich mit Blick auf den für Autos verbotenen Emma-Horion-Weg, der bis zur Fritz-Roeber-Straße reicht.

„Das ist eine optische Täuschung“, doziert mein bester Freund P., „weil dein Blick hier anders als vorher auf der Marktstraße nicht an Lokalen und Schaufenstern kleben bleibt.“

Station 5: Dagobertstraße, Bilk, 52 Meter

Unser Kurze-Straßen-Odyssee endet 15 Zick-Zack-mit-dem-Rad-Minuten später in Bilk. Von der Kopernikusstraße, wo sich der autobahnzubringende Verkehr Richtung Südring entlang wälzt, zweigt dort eine – natürlich – kurze Stichstraße ab: die 52-metrige Dagobertstraße. Wir erwischen eine Verkehrslücke, schießen ein Foto. Diverse Mehrfamilienhäuser, eine Parkhaus-Einfahrt, hinten in der Sackgasse ein Kinder-Spielplatz, vom dem aus eine wenig bekannte Abkürzung für Fußgänger und Radfahrer zur Suitbertusstraße führt. Und vorne an der Ecke ein Sport-Café.

„Eines ist klar“, schlaubergert mein ironieliebender Begleiter. „Da es hier in der Nähe weder eine Donaldstraße noch eine Daisysstraße oder eine Tick-Trick-und-Track-Straße gibt …“

„War Dagobert nicht ein Karolingerkönig?“, unterbreche ich ihn. „Oder ein Merowingerkönig?“

„Würde zur Umgebung passen“, sagt P., auf die benachbarten Straßennamen Bezug nehmend. „Und als typischer König war er vermutlich Milliardär, also eher doch so ein Geldspeichertyp.“

Zum Abschluss gönnen wir uns bei Unbehaun eine Belohnung, und mein erdbeereisliebender Freund P. schlägt zwei Punkte vor, die ich in meinem Text unbedingt erwähnen müsse. 1. Die Kurze Straße in der Altstadt habe es – haha, dumm gelaufen – nicht mal in die Top20 der kürzesten Straßen Düsseldorfs geschafft. 2. Das Konzept, sich per Fahrrad gezielt ungezielt von einem Punkt zum anderen zu bewegen, müsste man eigentlich weiter vermarkten. Er habe bereits eine Reiseführer-Serie im Sinn, für jede Großstadt eine Ausgabe, mit unbekannten und überraschenden Orten als verbindende Elemente, es müssten ja nicht unbedingt die kürzesten Straßen der Stadt sein. Als Spezialist für Werbung und Marketing habe er natürlich schon den passenden Oberbegriff kreiert: Fahrrad-Flaneur.

„Klingt gut, gibt’s aber sicher schon“, sage ich und googele den Begriff auf meinem Smartphone. Als ersten Treffer stoße ich auf einen Artikel über die Luxus-Fahrräder der Modemarke Hermès: Le Flâneur d’Hermès (ein Cruiser für den urbanen Alltag) und Le Flâneur sportif d’Hermès (ein Rennrad). Kostenpunkt: ab 8100 Euro.

Mein bester Freund P. winkt ab, tätschelt sein leicht rostiges, aber tadellos gepflegtes Mittelklasse-Rennrad: „Das hier wird wenigstens nicht so schnell geklaut – und es hat eine wunderbare Oldschool-App integriert.“ Er zeigt auf einen althergebrachten, 100 Prozent analogen Kilometerzähler. Unser Ergebnis für den heutigen Pedalen-Pendel-Parkour zwischen Speckmannweg, Flachsmarkt, Marktstraße, Emma-Horion-Weg und Dagobertstraße: 24,1 Kilometer.

Einen Tag später, als dieser Text fast fertig ist, hat mein bester Freund P. noch eine seiner „genialen“ Ideen: „Zähle doch einfach am Ende, wie viele Zahlen in der Kolumne vorkommen, das wäre ein originelles Schlusswort bei einem zahlenlastigen Thema wie diesem.“Gesagt, getan: Ich komme auf 48, diesen Satz inklusive.

„Ganz schön viele“, sage ich. „Ob so einen Zahlen-Text überhaupt einer bis zum Schluss liest?“

„Wahrscheinlich nicht“, sagt P. und klingt dabei mindestens so überzeugend wie sein heimliches Vorbild Christian Lindner. „Heute werden keine langen Texte mehr gelesen, und wenn mehr als sieben Zahlen in den ersten drei Absätzen vorkommen, steigen 70 Prozent der Leute aus …“

„49, 50, 51“, werfe ich ein.

„… was aber keine Rolle spielt, weil ich mir diese Statistik gerade erst ausgedacht habe“, ergänzt P.

P.S. Der Speckmannweg erhielt seinen Namen 1937. Diedrich Speckmann starb 1938.

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