Düsseldorf/Braunschweig Die Flucht - Studentin taucht für drei Jahrzehnte ab und schweigt

Sie war 31 Jahre lang verschwunden und längst für tot erklärt worden. Plötzlich taucht die einstige Informatik-Studentin Petra P. im gesetzten Alter von 55 Jahren in Düsseldorf wieder auf - so lebendig wie schweigsam. Ein Psychologe liefert eine Erklärung.

Symbolbild/David Young

Symbolbild/David Young

Foto: David Young

Düsseldorf (dpa). An der Wohnungstür und dem Rahmen sind die Abdrücke eines Brecheisens ins Holz gepresst. Es sind wohl die Spuren des Einbruchs, der die Sensation ans Licht brachte.

Informatik-Studentin Petra P. verschwand 1984 im Alter von 24 Jahren spurlos aus Braunschweig. Sie galt als Mordopfer, wurde 1989 für tot erklärt. Und ist nun 31 Jahre später und 350 Kilometer entfernt in der Düsseldorfer Innenstadt wieder aufgetaucht. Als Polizisten sie wegen des Einbruchs in ihrer Wohnung aufsuchen, lüftet sie ihre wahre Identität.

Die Hausnachbarn wirken so überrascht wie ratlos: „Sie ist sehr freundlich und hilfsbereit, aber auch verschlossen. Sie lebt allein.“ Er habe versucht, sie kennenzulernen, berichtet ein Nachbar: „Aber sie hat abgeblockt.“

Journalisten vermuten die 55-Jährige in einem unauffälligen fünfstöckigen Mehrparteienhaus an einer Hauptverkehrsstraße. Auf dem Klingelschild steht ein Allerweltsname: Schneider. In dem Haus ist nicht einmal ihr Vorname bekannt. Und auch der Paketbote schüttelt den Kopf: „Ich habe ihr noch nie etwas gebracht.“ Der nächste Bäcker kennt die Frau zwar vom Brötchenholen, aber mehr auch nicht.

Ihren Zahnarzttermin in Braunschweig nimmt Petra P. am 26. Juli 1984 noch wahr. Doch bei ihrem Bruder, der am nächsten Tag Geburtstag hat, kommt sie nicht mehr an.

Mutter und Bruder waren fassungslos, als sie erfuhren, dass ihre Tochter und Schwester noch lebt. Sie haben ihr einen Brief geschrieben, sagt die Polizei. Dass sie mit offenen Armen empfangen werde. Doch Petra P. wünscht keinen Kontakt zu ihrer Familie und zur Öffentlichkeit - und schweigt zu den Gründen ihres Verschwindens.

„Sie ist hier nicht bekannt. Wir können zu ihr nichts sagen, außer, dass sie wohl einen Verstoß gegen das Meldegesetz begangen haben wird“, sagt ein Sprecher der Düsseldorfer Stadtverwaltung. Für die Meldeämter sei es ganz schwierig herauszufinden, wer wirklich in einem Haus lebe.

In Deutschland unterzutauchen, scheint aller Bürokratie zum Trotz gar nicht so schwer. Die scheue Frau P. habe nicht einmal einen gefälschten Ausweis gebraucht, berichtet die Polizei. Wie sie 31 Jahre ohne Personalausweis, Reisepass, Führerschein, Krankenversicherungs- und Bankkarte leben konnte, bleibt zunächst ihr Geheimnis.

Die TV-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ hatte den Vermisstenfall 1985 akribisch aufbereitet. In der ganzen Republik flimmert ihr Bild über die Fernsehschirme. Der entscheidende Hinweis aus der Bevölkerung bleibt aus. Zu der Zeit soll sie schon unter falschem Namen in einer Wohnung in Gelsenkirchen gelebt haben.

Die Polizei sagt nun: Die Frau hat das Abtauchen geplant. Es sollte so aussehen, als wäre ihr etwas zugestoßen. Gewalt oder sexuellen Missbrauch habe es in ihrer Familie aber nicht gegeben, sagt die Polizei. Nicht einmal ein Streit ist bekannt.

„Man kann aus der Ferne natürlich keine seriöse Diagnose stellen“, sagt Diplom-Psychologe Gerd Zimmek in Mönchengladbach. „Es spricht aber einiges für ein bestimmtes Krankheitsbild, eine psychische Störung, die sogenannte Dissoziative Fugue. Das ist das „Ich bin mal eben Zigarettenholen“-Phänomen. Die Leute verschwinden plötzlich“, berichtet der Psychologe.

In Krisen- und Kriegszeiten steigen die Fallzahlen an. „Es ist eine Notfallreaktion der Seele“, sagt Zimmek. Was diese Reaktion im Fall Petra P. ausgelöst haben könnte? Sie befand sich in der Endphase ihrer Informatik-Diplomarbeit, hatte sich ein sehr schweres Thema ausgesucht, wie die Ermittler damals berichteten.

Überzogene Ansprüche an sich selbst, Versagensängste und sehr viel Stress - das könnte die Situation sein, aus der Petra P. damals geflohen ist. „Und dann gibt es kein Zurück, weil sie vor Scham vergeht“, vermutet Zimmek.

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