Stadt-Teilchen Die 706 ist ein elementarer Stadtteilchen-Beschleuniger in Düsseldorf

Düsseldorf · Fahrten mit dieser Linie eignen sich besonders, findet unser Kolumnist, um die unterschiedlichen Facetten der Stadt kennenzulernen.

 Mit der 706 lassen sich ganz unterschiedlichen Facetten der Stadt entdecken. 

Mit der 706 lassen sich ganz unterschiedlichen Facetten der Stadt entdecken. 

Foto: Lepke, Sergej (SL)

Wenn ich aus der Ferne einfallenden Bekannten mal Düsseldorf in seiner ganzen Bandbreite zeigen möchte, empfehle ich regelmäßig einen Spaziergang zum Merowingerplatz. Der liegt im Süden von Bilk und ist allgemein als nicht besonders spektakulär anzusehen. Das Besondere ist aber, dass er Startplatz ist. Das steht dort nirgendwo angeschlagen. Ich weiß es aber.

Am Merowingerplatz startet die 706, die Linie meines Lebens. Ich bin schon mit der Linie 706 zur Schule gefahren, da hieß sie noch gar nicht so. Da gab es noch die schwarze 6 und die rote 6. Den Unterschied musste man kennen, denn die schwarze 6 fuhr in Richtung Graf-Adolf-Platz, die rote 6 Richtung Brehmplatz. Zwar erreichte auch die schwarze 6 irgendwann den Brehmplatz, tat dies aber aus der anderen Richtung, denn die 6 war eine Rundlinie, bei der man mit der schwarzen Version dem Uhrzeiger folgte und bei der roten gegen den Uhrzeiger rotierte.

 WZ-Kolumnist Hans Hoff.

WZ-Kolumnist Hans Hoff.

Foto: NN

Wie oft bin ich am Merowingerplatz morgens verpennt in die falsche 6 eingestiegen und habe das erst gemerkt, wenn sich die Streckenwege der beiden Bahnen am Ende der Kopernikusstraße trennten. Wie oft bin ich zu spät zur Schule gekommen, weil ich dann den Rest laufen musste.

Das mit dem Rotieren ist heute noch ein bisschen so, auch wenn es nur noch eine einzige 6 gibt, nämlich die 706. Die bekommt, seit die Wehrhahnlinie eingeweiht wurde und sie vom Merowingerplatz über den Brehmplatz nach Hamm fährt, strenggenommen keinen kompletten Kreis mehr zusammen, taugt aber trotzdem immer noch für eine formidable Besichtigungstour, bei der man Düsseldorf aus sehr unterschiedlichen Blickwinkel kennenlernt, denn die 706 fährt auf ihrer fast einstündigen Tour durch sage und schreibe zehn Stadtteile und streift zwei weitere, bevor sie in Hamm zur Ruhe kommt. Wenn man so will ist dieses Vehikel, das zwischendurch öfter mal richtig Fahrt aufnimmt, ein echt elementarer Stadtteilchen-Beschleuniger.

Kürzlich habe ich in Vorbereitung eines Bekanntenbesuches mal wieder eine Testfahrt unternommen und mich erneut gewundert, wie vielfältig sich meine Heimatstadt doch aus der bahnalen Perspektive erleben lässt. Sie folgt nicht den schönen Vorzeigewegen, sondern zieht lange auf dem hässlichen Lastring ihre Bahn. Auf’m Hennekamp, Kruppstraße, Werdener Straße, alles keine Sehenswürdigkeiten, aber in Summe doch visuell und akustisch aussagekräftig. Zweckdienliche Verkehrsadern halt.

Nur am Volksgartenhalt gibt es mal kurz ein bisschen Kunst, rechts das Uhrenfeld, links das bunte Monster, zu dem die Abwasserabluftanlage veredelt wurde. In der Bahn Schüler, die nach Zigaretten riechen und über Lieblingslehrer reden. Und über Noten, die sie mögen, und über solche, die sie nicht so sehr mögen.

Hinter dem Oberbilker Markt wird die 706 gar zur Bergbahn, wenn sie an der Büste des Schriftstellers Alexander Puschkin vorbei rattert und längs des Amtsgerichts Höhe gewinnt, um die Bahnlinie zu überwinden, die Oberbilk von Flingern-Süd trennt. Kurz danach taucht links der Düsselstrand auf, der bei uns Schülern früher nur Kettwiger hieß, weil das antike Schwimmbad halt an der Kettwiger Straße lag. Im neuen Bad war ich nie, aber mein Fahrtenschwimmerzeugnis aus dem Kettwiger habe ich heute noch.

Gegenüber die Stadtwerke und der wohl verwinkelste Baumarkt, den ich kenne, der aber immer wieder gute Dienste leistet, weil er einer der wenigen ist, die sich in Düsseldorf gehalten haben.

In Richtung Brehmplatz geht es weiter zügig durch Flingern-Nord, weil der Bahn schon früh eine eigene Spur spendiert wurde. Da spürt man richtig, was kräftemäßig in solch einem Triebwagen steckt. Da kann auch die U-Bahn nicht mithalten. Hurtig geht es nach Düsseltal, durch die quirlige Rethelstraße, wo jede Menge interessante Geschäfte locken und der Leerstand noch nicht Hauptmieter ist. Es folgt der S-Bahn-Halt, der immer noch Zoo heißt, obwohl der zugehörige Tierpark am Brehmplatz schon seit 75 Jahren nicht mehr existiert und ich auch niemanden kenne, der die tierischen Bewohner dort noch persönlich in Augenschein nehmen konnte.

Jenseits des Klötzchenparadieses, das sich euphemistisch Toulouser Allee nennt, obwohl es von Allee so gar nichts hat, ist Pempelfort, und die Häuser wirken dort irgendwie eine Spur schicker als auf der bisherigen Strecke, die Menschen einen Hauch aufgeräumter. Dafür ist es etwas enger, steht auch schon mal ein Auto auf den Schienen, was die Weiterfahrt verzögert. „All das ist Düsseldorf“, werde ich meinen Bekannten erzählen, wenn ich sie demnächst mitnehme auf meine große 706-Tour der rheinischen Vielfalt.

Und natürlich werden sie staunen, wenn die Bahn auf die Kaiserstraße einbiegt und sich längs des Hofgartens aufwärmt für die großen Bauten, das Thyssen-Hochhaus, dem die namensgebende Firma abhandengekommen ist, der Kö-Bogen, die Schadowstraße und der Tausendfüßler, der zwar nicht mehr physisch anwesend ist, in meinen Gedanken aber immer noch die Gleise überwölbt.

Weiter runter die Berliner Allee. So breit, so ausladend und doch so wenig schön. Mir fehlen die Kinos an ihrem südlichen Ende, das Berolina, das Universum und um die Ecke das Residenz auf der Graf-Adolf-Straße. In meinem Kopf haben sie alle gerade erst für immer geschlossen, dabei sind sie schon Jahrzehnte dicht. Vorbei an der Kö, rein in die Carlstadt, runter zum Landtag und ab nach Unterbilk über die quirlige Restaurationsansammlung an der Bilker Kirche, rein in die Gladbacher Straße Richtung Hafen.

Kurz vor dem Hafen macht die 706 einen Schlenker nach links, und urplötzlich ist plattes Land, so weit das Auge reicht, füllen endlose Felder das Auge des Betrachters. Richtige Felder, mit Gewächshäusern, echte Weite.

Kurz danach erreicht die 706 nach 34 Haltestellen ihr Ziel. Hamm S-Bahnhof. Endstation, alles aussteigen. 53 Minuten hat sie gebraucht, die 706, vom Merowingerplatz hierher, drei Minuten mehr als geplant, wahrscheinlich wegen des auf den Gleisen geparkten Autos in Pempelfort.

Neben der Haltestelle gucken ein paar Schafe dumm, und ich denke: All das ist Düsseldorf. Eben noch durch die Industriebrachen von Oberbilk und Flingern gekurvt, dann über den fehlenden Zoo gewundert und die Bauten des Einkaufsparadieses bewundert. Danach von der Bahn aus Landtag und Rheinturm bestaunt, und nun liegt plötzlich Land vor mir, plattes Land in einer hervorragenden Stadt. All das ist Düsseldorf.

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