Kolumne Der Köln-Düsseldorf-Horizont

Düsseldorf · Zwei Skylines, ein Ausblick: auf beide, von ein und demselben Punkt! Oder: Wie ich den Ort fand, von dem aus man meine Geburtsstadt Köln und meine Heimatstadt Düsseldorf gleichzeitig sehen kann – und was das mit Ibiza und Formentera zu tun hat. Eine rheinische Horizont-Erweiterung.

 Der Blick von Leichlingen-Bergerhof auf Düsseldorf: Der Rheinturm und die Hochhäuser sind gut zu erkennen.

Der Blick von Leichlingen-Bergerhof auf Düsseldorf: Der Rheinturm und die Hochhäuser sind gut zu erkennen.

Foto: Sebastian Brück

Ausblicke faszinieren mich. Vom Berg ins Tal. Von der Küste aufs Meer. Von Hochhäusern in Stadtschluchten: Nehme ich! Begonnen hat meine Ausblick-Vorliebe im Grundschulalter. Als wir 1977 zum ersten Mal in den Osterferien auf Formentera Urlaub machten, saß ich – knapp sieben Jahre alt – stundenlang am Rande von Es Pujols (damals gerne scherzhaft „Düsseldorf-Süd“ genannt) auf meinem Lieblingsfelsen, warf die Angel aus und schaute Richtung Horizont. Dort zeichnete sich die Nachbarinsel Ibiza ab, von der ich durch die Anreise lediglich den Flug- und den Fährhafen kannte. Mal schienen Ibizas Berge und Hügel unendlich weit weg, mal zum Greifen nahe, und nur hin und wieder verschwand die Insel im Dunst. Man konnte die Ibiza-Silhouette nicht nur beim Angeln sehen, sondern praktisch ständig. Ob wir am Strand lagen, in unserem Stamm-Restaurant Sa Palmera Fisch aßen, mit Fahrrädern über Formenteras Straßen fuhren oder an einem sonnigen Morgen die Fenster unseres schneeweißen Miet-Bungalows öffneten (passenderweise hieß er „Mar i Sol“): Ausblick hier, Ausblick da, Ausblick Ibiza.

Als zwei Jahre später, 1979, in meiner Heimatstadt Düsseldorf der Rheinturm gebaut wurde, freute ich mich: Schließlich sollte er nicht nur Radio- und Fernsehsignale ins Umland funken, sondern auch eine Aussichtsplattform bekommen. Monat für Monat wuchs das Turm-Skelett ein paar Meter in den Himmel, und irgendwann wurde mir klar, dass dieses Ding tatsächlich außergewöhnlich hoch werden würde – höher als die gar nicht mal so niedrige Suitbertuskirche in der Nähe unserer Wohnung, vermutlich sogar höher als der Kölner Dom.

„Ob man vom fertigen Rheinturm aus Ibiza sehen kann?“, fragte ich meinen Vater – obwohl ich alt genug war, um zu ahnen, dass das wohl eher nicht klappen würde.

Seine Antwort gefiel mir: „Ibiza ist zu weit weg, aber in der Zeitung steht, dass man bei schönem Wetter den Kölner Dom erkennen kann.“ Den Kölner Dom von Düsseldorf aus sehen?! Das klang abenteuerlich und verlockend. Mir kam nämlich unsere Nachbarstadt ebenfalls ausgesprochen weit weg vor – auch wenn sie sicher näher lag als die Balearen…

Als der Rheinturm 1982 endlich fertig war, ging ich in die 6. Klasse und fuhr immer noch mit meinen Eltern und meiner Schwester in die Formentera-Osterferien. Stets die gleiche Prozedur: Mit der LTU von Düsseldorf nach Ibiza, raus aus dem Flugzeug, rein ins Taxi, kurzer Bummel am Hafen von Ibiza-Stadt, dann mit der legendären Schaukel-Fähre Joven Dolores rüber nach Formentera. Inzwischen hatte ich dort von meinem Lieblingsfelsen aus sogar den einen oder anderen Fisch aus dem Mittelmeer gezogen. Rückblickend kann ich mir aber durchaus vorstellen, dass das Angeln eigentlich nur ein unbewusster Vorwand für stundenlanges Ibiza-Gucken war.

 Der Anfang der Faszination: der Ibiza-Horizont auf Formentera.

Der Anfang der Faszination: der Ibiza-Horizont auf Formentera.

Foto: Sebastian Brück

Zu dumm, dass die Osterferien bloß drei Wochen dauerten. Den Rest des Jahres brauchte ich für meine Fernsicht-Faszination einen Ibiza-Ersatz. An Nord- oder Ostsee wäre ich wohl leicht fündig geworden, ebenso im alpennahen München oder im hügeligen Stuttgart. In Düsseldorf, mitten im Niederrheinischen Tiefland war das schon schwieriger. Der höchste Punkt der Stadt – der Sandberg in Hubbelrath – misst zwar stolze 164,7 Meter über Nullniveau, hat aber eine komplett bewaldete Spitze. Ein ziemlich ausblickarmes Umfeld – zumindest, wenn es um die „echten“, die „weiten“ Ausblicke geht. Umso mehr war ich begeistert, als ich mit meinem Vater schon kurz nach der Eröffnung die 170 Meter hohe Aussichtsplattform des 240 Meter hohen Rheinturms besuchen durfte.

Kaum hatte ich den Aufzug des Rheinturms verlassen, klebte ich an den Panoramafenstern. Meine Augen flogen über Dächer und Fassaden, tauchten in Straßen ein, blieben an winzig erscheinenden Autos oder Rheinschiffen hängen, wanderten zum Horizont. Das Wetter spielte mit, der Himmel war klar, mein Herz klopfte. Im „Angebot“: der Grafenberger Wald, der Flughafen, das Rheinstadion, das Dreischeibenhaus, Neuss, Krefeld, das Bergische Land und die Fleher Brücke (auch erst 1979 fertiggestellt: siehe Kolumne Nr. 8, Februar 2019). Noch besser: Rund 40 Kilometer südlich waren tatsächlich die Spitzen des Kölner Doms zu erkennen, flankiert vom ein Jahr zuvor eingeweihten Kölner Fernmeldeturm „Colonius“.

 Der Blick von Leichlingen-Bergerhof auf Köln: Links kann man den Dom erahnen, rechts den Fernsehturm.

Der Blick von Leichlingen-Bergerhof auf Köln: Links kann man den Dom erahnen, rechts den Fernsehturm.

Foto: Sebastian Brück

„Welcher ist höher – der Kölner Fernsehturm oder unserer?“, fragte ich meinen Vater.

 Der Blick von Leichlingen-Bergerhof auf Köln: Links kann man den Dom erahnen, rechts den Fernsehturm.

Der Blick von Leichlingen-Bergerhof auf Köln: Links kann man den Dom erahnen, rechts den Fernsehturm.

Foto: Sebastian Brück

Der hatte die Frage schon erwartet: „Der Turm in Köln ist etwas höher, 253 Meter, dafür hat er mit 166 Metern eine niedrigere Aussichtsplattform.“

Ich zog einen (nicht notwendigerweise logischen) Schluss: „Wenn die beiden Fernsehtürme fast gleich hoch sind, müsste es doch einen Ort geben, von dem aus man sie beide sehen kann“.

Mein Vater zuckte die Schultern: „Wenn, dann liegt der passende Aussichtspunkt wahrscheinlich auf einem der Hügel im Bergischen Land.“ Er hörte sich im Freundes- und Bekanntenkreis um – doch keiner hatte eine Idee. So blieb mein „Köln und Düsseldorf gleichzeitig sehen“-Wunsch unerfüllt, und irgendwann verschwand er in der Erinnerung…

Bis heute habe ich die Aussichtsplattform des Rheinturms sicher drei Dutzend Mal besucht: Als Kind mit meinen Eltern, später allein, dann mit Besuchern aus anderen Städten oder anderen Ländern, seit der Jahrtausendwende auch mit Neffen und Nichten – und seit ein paar Jahren mit meiner Tochter. Dass der Blick vom Düsseldorfer Fernsehturm bis zum Kölner Dom und zum Kölner Fernsehturm reicht, finde ich immer noch faszinierend. Vielleicht hat das nicht zuletzt mit meinem Kölner „Migrationshintergrund“ zu tun: Als Kind eines Düsseldorfer Vaters und einer westfälischen Mutter bin ich in Köln geboren (siehe Kolumne Nr. 3, September 2018). Kurz vor meinem vierten Geburtstag zogen meine Eltern mit mir nach Düsseldorf-Bilk. Zwischen Düssel und Volksgarten bin ich aufgewachsen. Als Erwachsener habe ich kurz nach dem dreißigsten Geburtstag auch mal zwei Jahre in Ehrenfeld verbracht, zurück zu den Wurzeln. Kurzum: Ich fühle mich beiden Städten verbunden, mache mir nichts aus der Rivalität, wohne gerne in Düsseldorf, bin aber auch oft in Köln (nur im Fußball gehört mein Herz allein F95).

Warum ich das alles erzähle? Weil man das, worum es hier eigentlich geht, dann besser verstehen kann: Bei einem Familienausflug nach Leichlingen – einer von der Wupper durchflossenen Kleinstadt im Bergischen Land – machte ich vor drei Jahren eine Entdeckung, die mir die eben beschriebene Fernblick-Faszination meiner Kindheit zurückgebracht hat.

 Leichlingen liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen Köln und Düsseldorf.

Leichlingen liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen Köln und Düsseldorf.

Foto: Sebastian Brück

Nach einem Wald-Spaziergang fuhren wir auf einer Landstraße über die Anhöhen am Stadtrand. Erst entdeckte ich aus dem Auto heraus den Kölner Fernsehturm am Horizont. Als nach einem Richtungswechsel, ein paar Kurven weiter auch noch der Düsseldorfer Rheinturm zwischen den Bäumen auftauchte, macht es „Klick“ in meinem Kopf: Das war die Chance, endlich den Platz zu finden, von dem aus man sowohl meine Geburtsstadt, als auch meine Heimatstadt im Blick hätte. Wohlgemerkt: Ohne auch nur einen Schritt gehen zu müssen. Allein dadurch, dass man den Kopf dreht und den Blick schweifen lässt. Wenn nicht hier, wo sonst? Schließlich liegt Leichlingen fast genau in der Mitte zwischen Köln und Düsseldorf, jeweils gut 20 Kilometer entfernt, und ist mehr oder weniger von Hügeln umgeben. Auch „kulturell“ sind die Voraussetzungen optimal: Leichlingen liegt unweit der Kölsch-Alt-Grenze und des Helau-Alaaf-Äquators. Und es wird zeitungsmäßig sowohl vom Kölner Stadtanzeiger, als auch von der Rheinischen Post mit einem Lokalteil versorgt. Kurzum: Nirgendwo sind sich Köln und Düsseldorf „näher“ als in Leichlingen. Fehlt also nur noch die passende Aussicht.

Über zwei Jahre gehe ich rund um Leichlingen immer wieder mal auf die Jagd nach dem Köln-Düsseldorf-Horizont. Stellen, von denen man eine der beiden Städte sehen kann, finde ich mehrere. Einer Doppel-Fernsicht stehen jedoch stets Wäldchen oder Häuser im Weg – oder der Winkel passt nicht. Der Tipp eines Exil-Leichlingers bringt schließlich die Wende: Ich solle doch mal „Hülstrung“ oder „Bergerhof“ ins Navi eingeben. Auf der Hochfläche, zwischen den genannten Ortsteilen, liege womöglich „mein“ Aussichtspunkt. Allerdings müsse ich ein wenig Glück mit dem Wetter haben. Ich checke die Lage vorab auf Google Maps, finde für Hülstrung (112 Meter über Nullniveau) und Bergerhof (140 Meter) sogar je einen Wikipedia-Eintrag. Die Satellitenansicht ist vielversprechend: ein sanft ansteigender Hang, mit Feldern bedeckt, dazwischen nur wenige Bäume und Sträucher. Könnte klappen…

Dann ist es soweit: Ein sonniger Wintertag, kaum Wolken, gutes Fernsicht-Wetter. Ich parke in Leichlingen-Bergerhof, einer Ansammlung von Häusern auf dem höchsten Punkt der Hochfläche, spaziere ein wenig am Ortsrand hin und her und finde schließlich „meine“ Stelle: Ein asphaltierter Feldweg, der nur für Anliegerverkehr freigegeben ist und südwestlich talabwärts führt. Weiter unten, circa dreißig Meter vor zwei dicht nebeneinanderstehenden Buchen, die von weitem wie ein einziger Baum wirken (sogar in Google Maps zu sehen), müsste der Blick frei sein – auf Köln und auf Düsseldorf.

Ich positioniere mich am Wegesrand und richte den Blick scharf nach links. Ich sehe Leverkusen: die Schornsteine des Bayer-Werks und den Wasserturm. Seitlich dahinter: Köln! Der Dom, der Fernsehturm und der Kölnturm im Mediapark.

Und Düsseldorf? Ohne meine Position zu verlassen, neige ich den Kopf nach rechts. Als erstes entdecke den Rheinturm, dann folgen Stadttor, LVA-Hauptgebäude und Gap15. Ich meine sogar die Oberkasseler Brücke zu erkennen. Östlich begrenzt der ARAG-Tower den Düsseldorf-Horizont. Nur die Fleher Brücke vermisse ich. Weil sie mit dem höchsten Brückenpylon Deutschlands aufwarten kann, ist sie bei Düsseldorf-Blicken aus der Ferne normalerweise der ideale Blickfang, um sich zu orientieren.

Trotzdem: Es hat funktioniert! Oder? Noch mal ein prüfender Blick nach links: Ich sehe Köln. Und noch mal einer nach rechts: Ich sehe Düsseldorf. Eine Simultan-Fernsicht auf die beiden größten Städte des Rheinlands – von ein und derselben Stelle aus! Freude, Aufregung, fast ein bisschen Rührung: Was für die Menschen, die hier wohnen, vermutlich ein nicht hinterfragter, vielleicht sogar unbemerkter Teil des Alltags ist, bleibt für mich eine Sensation, ein kleines Wunder. Hier, am Rande von Leichlingen-Bergerhof, auf einem Feldwegabschnitt von maximal 20 Metern.

Kamera raus, das muss ich festhalten: Für den heutigen Tag habe ich mir extra einen Camcorder mit optischem Zoom zugelegt. Mein Stativ ist nicht so stabil wie erhofft. So landen einige Wackler im Film. Aber egal: Bin ja kein Filmprofi. Ich habe den Köln-Düsseldorf-Horizont aufgenommen, in einem Schwenk, ohne Schnitt – das zählt. Und durch das Ranzoomen erkenne ich in den Skylines „meiner“ beiden Städte noch weitere Details und Gebäude. Schließlich entdecke ich auch noch die Fleher Brücke, „versteckt“ zwischen Baumwipfeln.

Schon öfter habe ich mir überlegt, wie man meine Vorliebe für Fernblicke erklären könnte. Seit Henry David Thoreaus Essay von 1862 („Vom Spazieren“) haben sich diverse Autoren intensiv, zum Teil fast wissenschaftlich mit allen möglichen Facetten der Zu-Fuß-Bewegung beschäftigt. Eine „Philosophie des Fernblicks“ habe ich bisher nicht finden können. Durchaus erstaunlich, denn Aussichts-Enthusiasten, die sich gerne im Horizont verlieren, dürfte es viele geben. Ich persönlich habe durch fortwährendes Ausblicken schon oft neue Einblicke gewonnen und spannende Einfälle gehabt – ohne dass es in diesen Momenten meine Absicht gewesen wäre. Vielleicht handelt es sich bei meinem „Hobby“ ja um eine Art Meditation. Um einen Stresskiller, der ein Gefühl von Freiheit verschafft. In jedem Fall könnte ich von der Leichlinger Hochfläche aus stundenlang in die Ferne schauen. Einen Lieblingsfelsen, so wie im Jahr 1977 auf Formentera, werde ich hier zwar nicht finden (ich müsste schon einen Klappstuhl mitbringen). Auch das Wellenrauschen fehlt. Dafür fühlt sich die „Aussichtsplattform“ kurz vor der prägnanten Doppel-Buche „exklusiv“ an, denn anders als das Bergpanorama von Ibiza drängt sich der Fernblick auf die beiden „Rivalen vom Rhein“ nicht auf, man muss sich schon ein wenig anstrengen, um ihn zu genießen. Anders gesagt: Den kindlichen Sehnsuchtsort mit Köln-Düsseldorf-Blick nach 35 Jahren doch noch gefunden zu haben – das ist meine ganz persönliche Horizont-Erweiterung.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort