Das kleine Bernsteinzimmer

Marianne Stengel baute den Mythos nach. Für ihre Miniaturausgabe brauchte die Düsseldorfer Künstlerin vier Jahre.

Düsseldorf. Winzige vergoldete Kronleuchter fluten Marianne Stengels größten Schatz. Die mit Bernstein verzierten Wände leuchten cognacfarben. „Eine Schnapsidee, was?“, fragt die 76-Jährige. „Ganze vier Jahre habe ich dafür gebraucht.“ Die Düsseldorferin hat das legendäre Bernsteinzimmer nachgebaut — das so genannte „achte Weltwunder“, das einst im Katharinenpalast von Puschkin, nahe Sankt Petersburg, zu bewundern war und seit 1945 verschollen ist.

Die 45 Zentimeter hohe und 60 Zentimeter breite Miniaturausgabe steht unbemerkt in einem Düsseldorfer Wohnzimmer. „Vor zehn Jahren habe ich auf einem Flohmarkt ein altes, schwarzes Tablett entdeckt“, sagt sie. „Durch die Farbe schimmerten Holz-Intarsien.“ Das Muster erinnerte die Künstlerin an den Perlmuttboden des Originals, das sie schon immer fasziniert hat.

„Mir war sofort klar, dass ich diesen Mythos nachbauen muss“, sagt die gebürtige Breslauerin, die sich ein Leben ohne Basteln nicht vorstellen kann — schon in ihrer Kindheit verzierte sie Postkarten mit feinsäuberlich geschnittenem Zigarettenpapier. „Wir hatten nie Geld. 1945 mussten wir flüchten“, sagt die Rentnerin. Über Dresden und Bad Godesberg kam Stengel in den fünfziger Jahren nach Düsseldorf, wo sie zuerst bei Henkel am Fließband, später in der Gastronomie und im Carsch-Haus arbeitete.

1989 eröffnete sie einen kleinen Laden in der Kölner Straße — Stengel bastelte, reparierte und verkaufte Puppen, Teddys und aufwändige Miniaturhäuser. Zehn Jahre später gab sie das Geschäft auf. Und mit dem gefundenen Tablett begann ein neues Kapitel — der Bau des kleinen Bernsteinzimmers.

Bei Tee und laufendem Fernseher schliff sie ihren Fund ab und baute einen Rahmen aus Holzbrettern. Ihre Tochter nahm Kontakt zur Eon Ruhrgas AG auf. Das Unternehmen unterstützte damals den Bau der berühmten Kopie, die seit 2003 wieder in Puschkin ausgestellt ist. „Wenig später hatte ich Fotos des Originals in der Post“, sagt Stengel.

Sie begab sich auf die Suche nach den Holzfossilien. Ihre ersten Steine kaufte sie auf dem Weihnachtsmarkt. Bei einem Besuch in ihrer Geburtsstadt fand sie weitere in einem Souvenirshop. Enge Freunde und Verwandte brachten ihr Bernsteinketten und -armbänder aus Urlauben mit, die Stengel Abend für Abend geduldig auseinanderfummelte.

Mit Schleifwerkzeug und Schmirgelpapier passte sie die Steine an und klebte sie auf. Für Briefmarken und Broschen mit Portraits bastelte sie winzige Bilderrahmen. „Mein Zimmerchen sollte ja der Vorlage entsprechen“, sagt sie. Vier Monate lang pinselte die Künstlerin detailverliebt an den Engelsfresken. Zum Schluss wurde die Miniatur noch verkabelt. „Vor zwei Jahren habe ich mein kleines Kunstwerk in der Kö-Galerie präsentiert“, sagt Marianne Stengel stolz. Und zu Stolz hat sie jede Menge Grund.

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