Viele Kinder leiden — auch nebenan

Die Kräfte der Ärztlichen Kinderschutz- Ambulanz in Remscheid kümmern sich um Fälle im Bergischen Land — und darüber hinaus.

Viele Kinder leiden — auch nebenan
Foto: Anja Carolina Siebel

Bergisches Land. Ein Wochentag gegen 10 Uhr im Büro der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisches Land. Das Team sitzt zusammen und bespricht, was aktuell anliegt. Für alle Beteiligten der tägliche Job; Alltag ist es indes nie. Denn was auch an diesem Morgen auf den Tisch kommt, es kann niemals Alltag sein.

Die Therapeuten betreuen Kinder, die schwersten Misshandlungen, Missbräuchen oder Vernachlässigungen ausgesetzt sind. Sie arbeiten mit Familien mit massiven Problemen.

Eine junge Frau soll später vorbeikommen. Sie erzieht zurzeit ihre fünf Kinder allein. Ihr Noch-Ehemann sitzt im Gefängnis, weil er sie vor gut einem Jahr bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt hat. Die Kinder mussten das grausame Szenario miterleben. Der Mann sieht sich nicht als Schuldigen. Schließlich habe seine Ehefrau ihn ständig provoziert, indem sie sich aufreizend angezogen habe und so auf die Straße gegangen sei.

Der älteste Sohn (10) findet auch, dass seinen Vater keine Schuld trifft. „Papa hatte das Recht dazu“, beteuerte er immer wieder gegenüber den Therapeuten. Er und seine Geschwister sind aber hin- und hergerissen. Zwischen der labilen Mutter, die inzwischen mit einem neuen Partner zusammenlebt, und deren Ex-Ehemann, der sich ihnen gegenüber bisher immer als liebender Vater gegeben hat. Das Team der Kinderschutzambulanz sieht es als eine Hauptaufgabe an, die Kinder zu begleiten und ihnen den schwierigen Spagat der Emotionen zu erleichtern. Eine Herausforderung.

Birgit Köppe-Gaisendrees Ärztliche Kinderschutzambulanz

Die Türklingel schellt indes ununterbrochen. Immer mehr Mütter, Väter oder Betreuer kommen mit ihren Kindern zur Sprechstunde. Birgit Köppe-Gaisendrees, die Leiterin der Kinderschutzambulanz, hat das Jugendamt am Telefon. Es geht um eine 16-jährige Nigerianerin, die auf ihrer Flucht nach Europa in Italien vergewaltigt und dadurch schwanger wurde. Sie ist im Bergischen gestrandet und braucht Hilfe, die sie aber nicht annehmen möchte. „Sie kommt aus einem völlig anderen Kulturkreis, hält Krankenhäuser für teuflisch“, berichtet Köppe-Gaisendrees. Auch diese junge Frau soll sensibel begleitet werden. Mit dem Ziel, dass sie ihr Kind im Krankenhaus zur Welt bringt und es später verantwortungsvoll versorgen kann.

Seit 28 Jahren gibt es die Kinderschutzambulanz in Remscheid; damals noch unter dem Namen „Ärztliche Beratungsstelle Bergisches Land“ mit Standort in Lennep bekannt. Das Land NRW gewährte damals Anschubfinanzierungen. Der jährliche Zuschuss der Stadt deckt nach einer Kürzung gerade einmal noch 1,5 der insgesamt zehn — inzwischen dringen notwendigen — Stellen. Fast alle Fälle rechnet die Ambulanz mit Jugendämtern ab, sogenannte Fachleistungsstunden. Das deckt 85 Prozent. Der Rest sind Bußgelder und Spenden. Um die das Team immer wieder kämpfen muss. Ein Kraftakt. „Gerade auch deshalb, weil wir täglich mit schwerst belastenden Fällen konfrontiert werden“, erklärt Birgit Köppe-Gaisendrees. Hinzu komme die Sorge um die Existenz. Die ist ganz akut, denn gerade erst, im Jahr 2016, schrieb die Ambulanz erstmals rote Zahlen.

Aktuell teilen sich die zehn Hauptamtlichen sechs Stellen: acht Therapeuten und zwei Verwaltungskräfte. Der Einzugsbereich der Ärztlichen Kinderschutzambulanz reicht von Krefeld bis Gummersbach; ähnliche Ambulanzen gibt es in Düsseldorf, Dortmund und Münster. „Natürlich liegt unser Hauptaugenmerk auf Remscheid und dem Bergischen Land“, unterstreicht die Leiterin. „Aber unsere intensive und engagierte Arbeit und die Kombination aus Ambulanz, Psychiatrie und stationärer Versorgung hat sich herumgesprochen.“

Jugendämter, Kinderärzte, Kita- und Schulleitungen kontaktieren in der Regel das Therapeuten-Team der Kinderschutzambulanz. Nur selten kommen Eltern aus eigenem Antrieb, um sich Hilfe zu holen. Die Not ist unfassbar groß. „Kaum jemand ahnt, was sich hinter so mancher Tür abspielt“, sagt Birgit Köppe-Gaisendrees. „Ich sehe oft, wie ein Kollege mit Kindern zum Kühlschrank geht und ihnen erstmal einen Joghurt gibt, weil sie an diesem Tag noch nichts zu essen bekommen haben. Es ist unfassbar.“

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