Studie „Statistisches Wissen entscheidet offenbar mit über Leben und Tod“

Köln · Wer sich mit dem exponentiellen Wachstum des Infektionsgeschehens beschäftigt hat, ist eher dazu geneigt, aktiv zur Eindämmung von Covid-19 beizutragen. Das hat eine Studie des Social Cognition Center Cologne der Uni Köln und der Uni Bremen gezeigt.

 In einem Park in San Francisco sitzen Menschen in aufgezeichneten Kreisen, um ausreichend Abstand zueinander zu halten. Wie eine Studie nun gezeigt hat, akzeptieren Menschen diese Regelung eher, wenn sie das Prinzip des exponentiellen Wachstums des Infektionsgeschehens kennen.

In einem Park in San Francisco sitzen Menschen in aufgezeichneten Kreisen, um ausreichend Abstand zueinander zu halten. Wie eine Studie nun gezeigt hat, akzeptieren Menschen diese Regelung eher, wenn sie das Prinzip des exponentiellen Wachstums des Infektionsgeschehens kennen.

Foto: dpa/Noah Berger

Das Team um den Sozialpsychologen Dr. Joris Lammers aus Köln berichtet, dass die Studienteilnehmer, die tendenziell von einem linearen Zuwachs der Covid-19-Fälle ausgingen, das tatsächliche Viruswachstum unterschätzt hatten. Als ihnen daraufhin das Prinzip einer exponentiell steigenden Kurve an Infektionsfällen erklärt wurde, führte dieses neue Verständnis zu einer stärkeren Unterstützung für Social Distancing-Maßnahmen im Vergleich zu den Teilnehmern, die keine solchen Erklärinhalte über exponentielles Wachstum erhielten.

Viele Bürger erkennen nicht,
wie wichtig Distanzregeln sind

Als wirksamer Weg, die Ausbreitung einer Pandemie wie Covid-19 einzudämmen, gilt das Social Distancing. Die Einführung solcher Distanzregeln werde jedoch durch die Tatsache behindert, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ihre Notwendigkeit nicht erkennt, so Lammers: „Viele Sozialwissenschaftler sehen die Wurzel dieser falschen Wahrnehmung in dem, was wir die ‚exponentielle Wachstumsverzerrung‘ nennen. Menschen haben generell Schwierigkeiten, exponentielles Wachstum zu verstehen – und sie interpretieren Wachstumsvorgänge fälschlicherweise linear", erklärt Lammers.

Die Studie mit über 500 Teilnehmern in den USA zielte darauf ab, die Rolle der exponentiellen Wachstumsverzerrung in der öffentlichen Meinung über Social Distancing zu überprüfen. Im Zuge der Ausbreitung des Virus in den Vereinigten Staaten gegen Ende März führten die Wissenschaftler aus Bremen und Köln insgesamt drei Studien durch.

Die erste Studie konzentrierte sich auf das Verständnis von linearem Wachstum und zeigte, dass viele Amerikaner das exponentielle Wachstum des Virus fälschlicherweise als linear wahrnahmen. Lammers: „Interessanterweise spielte bei unseren Ergebnissen auch die politische Orientierung eine Rolle: Konservative waren anfälliger für dieses Missverständnis als Liberale.“ Die zweite und dritte Studie zeigten, dass die Erklärungen zum exponentiellen Wachstum die korrekte Wahrnehmung und damit die Unterstützung für Social Distancing deutlich erhöhen konnte. Die gewonnenen Ergebnisse stehen im Gegensatz zu früheren Studien, die gezeigt hatten, dass die „exponentielle Wachstumsverzerrung“ schwer zu überwinden ist. Dass es hier jedoch gelungen ist, erklärt Lammers mit der großen persönlichen Relevanz und Medienpräsenz von Covid-19: „Die Omnipräsenz von Corona erhöht für jeden Einzelnen viel mehr als in vorherigen Pandemien die subjektiv eingeschätzte Wahrscheinlichkeit, sich ebenfalls infizieren zu können.“

Zusammengefasst zeigten diese Ergebnisse, wie wichtig statistische Kenntnisse sind, um Unterstützung für die Bekämpfung von Pandemien wie dem Coronavirus zu gewinnen, resümiert Studienleiter Dr. Joris Lammers: „Da statistisches Wissen offenbar mit über Leben und Tod entscheidet, wollen wir mit dieser Studie auch ganz deutlich machen, dass statistische Grundlagen noch viel besser in der Öffentlichkeit vermittelt und in die Breite getragen werden sollten.“

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