Museum Ludwig John Dewey und die große Frage nach der Bedeutung von Kunst

Köln · Zum dritten Mal zeigt das Museum Ludwig im Untergeschoss eine Neupräsentation seiner Sammlung von Gegenwartskunst. Es sind etwa 50 Arbeiten von 34 Künstlern in allen Medien zu sehen - von der Malerei, Installation, Skulptur über Fotografie, Video bis hin zu Papierarbeiten.

 Gülsün Karamustafa zeigt in ihrem Werk ein orientalistisches Motiv aus dem 16. Jahrhundert. Was ihr Werk reflektiert, entspricht auch John Deweys Credo. Mit seiner Philosophie wird die Sammlung im Museum Ludwig neu betrachtet.

Gülsün Karamustafa zeigt in ihrem Werk ein orientalistisches Motiv aus dem 16. Jahrhundert. Was ihr Werk reflektiert, entspricht auch John Deweys Credo. Mit seiner Philosophie wird die Sammlung im Museum Ludwig neu betrachtet.

Foto: Staatliche Museen zu Berlin / Thomas Bruns/Gülsün Karamustafa

In den bisherigen Präsentationen der Gegenwartskunst waren einzelne Kunstwerke wie „A Book from the Sky“ von Xu Bing und „Building a Nation“ von Jimmie Durham Ausgangspunkt für Fragestellungen, die die Auswahl der Werke bestimmten. Dieses Mal dienen die Philosophie des US-Amerikaners John Dewey und sein internationaler, bis heute erkennbarer Einfluss im Bereich der Kunsterziehung und Kunstvermittlung als Folie, vor der die Sammlung betrachtet wird. Am Beispiel ausgewählter Werke werden die grundlegenden Themen des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft sowie von Kunstproduktion und -rezeption angesprochen.

Museum als lebendiger Ort
des Zusammentreffens

Deweys Überzeugung, dass Kunst eine große gesellschaftliche Bedeutung zukommt, liegt auch dem Auftrag zugrunde, den sich das Museum Ludwig für seine Arbeit gibt: Es ist ein lebendiger Ort des Zusammentreffens und Austausches. Es spricht ein Publikum an, das so vielfältig und vielzählig ist wie die Kunst, die es beherbergt. Teil der aktuellen Ausstellung der Gegenwartskunst ist eine Archivpräsentation, die John Deweys Leben und Wirken vorstellt sowie seine Einflusssphären nachzeichnet. Zudem wurden die ausgestellten Künstler zu ihrem Kunststudium und ihrer Kunstlehre befragt. Zitate aus den Antworten geben einen besonderen Einblick in ihr künstlerisches Schaffen.

John Deweys Denken und Wirken inspiriert auf verschiedenen Ebenen die Auswahl der Werke in der Neupräsentation: Auf welch unterschiedliche Weise sind individuelle wie gesellschaftliche Erfahrung in den Werken verdichtet? In welcher Form nehmen sie ausdrücklich oder vermittelt auf gesellschaftliche Entwicklungen Bezug? Welche vielfältigen Möglichkeiten bieten sie, die Besucher einzubeziehen?

Gülsün Karamustafa macht bereits mit dem Titel ihrer Arbeit „Presentation of an Early Representation“ von 1996 deutlich, dass es ihr um die vielschichtigen Ebenen der Kunstvermittlung und -betrachtung geht. In einer großformatigen Reproduktion zeigt sie ein orientalistisches Motiv aus dem 16. Jahrhundert nach den Schilderungen eines europäischen Reisenden: Frauen in europäischer Kleidung beziehungsweise unbekleidet werden von Männern wie Ware auf einem Basar behandelt. Karamustafa konfrontiert das Bild mit Fragen, die an sie als Künstlerin aus Istanbul häufig herangetragen werden und die unterschwellige Annahmen und Werturteile transportieren.

Kunst ist Erfahrung und führt in der Auseinandersetzung mit ihr zu neuen Erfahrungen: Was Karamustafas Werk reflektiert, entspricht auch John Deweys Credo. Für ihn spielte Kunst eine bedeutende Rolle in der Bildung, weil in künstlerischen Werken die vielfältigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf unterschiedlichste Weise vermittelt sind. Auch Trisha Bagas „Mollusca & The Pelvic Floor“ von 2018 ist ein Beispiel hierfür. Die Besucher können mit allen Sinnen in eine Multimedia-Installation eintauchen, die in eine sizilianische Grotte, durch das höhlenartig zugestellte Atelier der Künstlerin, auf die Philippinen oder in die Weite des Kosmos führt. Ausgehend von ihren Erlebnissen und Erfahrungen thematisiert Baga grundsätzliche Fragen zum Beispiel zum Verhältnis von Körper und Technik und lässt diese in der Installation erlebbar werden.

Dewey ging davon aus, dass eine vielfältige Umgebung Menschen immer wieder neu herausfordert und zur Weiterentwicklung bewegt. Darin sah er die Voraussetzung für aufgeklärte, selbstbewusste Individuen, die sich als Teil demokratischer Prozesse in einer pluralistischen Gesellschaft verstehen. Weil Kunst selbst verdichtete gesellschaftliche Erfahrung ist, kommt ihr ein wichtiger Bildungsauftrag zu. Künstler wie Oscar Murillo betonen deshalb die Bedeutung, die Deweys Schriften für ihr Werk haben.

Die Installation „Collective Conscience“ (seit 2015 fortlaufend) appelliert an die gemeinsame Verantwortung, und dies auf unmittelbare, sinnliche Weise: Die tribünenartige Holzkonstruktion bietet nicht nur lebensgroßen Puppen in Arbeitskleidung als Sitzmöglichkeit, sondern lädt auch Besucher ein, sich niederzulassen. In diesem Augenblick vervollständigen sie dann das Bild, das für ein kollektives Gewissen und für Solidarität steht.

Als pragmatischer Philosoph, der sein Denken auf die gesellschaftlichen Effekte seiner Philosophie ausrichtete, galt John Deweys Augenmerk von Beginn an der Erziehung. In seinen Schriften „Demokratie und Erziehung“ (1916) und in „Kunst als Erfahrung“ (1934) ist die zentrale Rolle der Kunst formuliert. Dewey ist nicht nur als Mitbegründer der New School for Social Research in New York bekannt. Vor allem im Bereich der Kunsterziehung reicht sein Einfluss vom Black Mountain College zum California Institute of the Arts bis hin zum Whitney Independent Study Program.

Deweys Wirken hinterließ darüber hinaus durch seine Reisen und Auslandsaufenthalte weltweit Spuren. Er hielt sich zwischen 1919 und 1921 drei Monate in Japan und zwei Jahre in China auf. 1924 wurde er neben fünf weiteren internationalen Wissenschaftlern von der 1923 neugegründeten Türkischen Republik beauftragt, Empfehlungen für eine umfassende Bildungsreform zu formulieren, weswegen er drei Monate lang das Land bereiste. Auch die Sowjetunion lernte er 1928 kennen. Weniger bekannt ist seine Bedeutung für die Re-Education in Westdeutschland nach 1945, einer von den Alliierten initiierten demokratischen Bildungsarbeit im Kontext der Entnazifizierung, sowie für die Reformen der Grundschulen in der alten Bundesrepublik.

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