Die vielen Gesichter der Erinnerung

Ein Gang über den Friedhof erzählt vor allem von der unterschiedlichen Trauerarbeit der Lebenden.

Burscheid. Als Erstes dringt das Rauschen ins Ohr. Immer wieder dieses Rauschen der Autobahn. Ein Ort der Stille ist der Friedhof nicht. Aber vielleicht hat das ja seine innere Logik: Da draußen rauscht das Leben vorbei - und hier ruht es.

Auf dem der Autobahn am nächsten gelegenen neuen Teil des Friedhofs reinigt Gottfried Kolb (70) gerade die Gartengeräte. Jeden Tag ist er hier. Am Grab der Frau, die im Mai starb. Und am Grab des Sohnes, dessen Tod schon 14 Jahre zurückliegt. "Wenn ich nicht hierherkomme, fehlt mir etwas", sagt er.

Für Kolb ist der Friedhof ein Ort des Wiedersehens. Auf dem Grabstein seiner Frau ist ihr Foto zu sehen. "Ich spreche hier auch ihr und meinem Sohn. Das ist die Beziehung." Dass die beiden Gräber das ganze Jahr über gepflegt aussehen und die Kerzen brennen, dafür sorgen auch seine Kinder. "Und selbst die drei Enkel sind einmal in der Woche hier."

Sterben müssen alle. Der Friedhof schlägt daher den denkbar größten Bogen zwischen den Menschen: vom Kriegerdenkmal über die Vertriebenengedenkstätte bis zum Mahnmal der russischen Zwangsarbeiter; von bekannten Namen wie Kuno Hendrichs bis zum anoymen Urnengrab; von der imposanten Ruhestätte der Familien Richartz-Bertrams und Luchtenberg bis zum verblichenen Holzkreuz des kleinen Karsten, der im November 1974 nur einen Tag alt wurde. Auf dem Gedenkstein der Evangelischen Gemeinde für ihre Pfarrer findet sich links der Aufklärer Johannes Löh und rechts der linientreue Nazi Friedrich Wilhelm Berg.

In diese großen Traditionen will sich eine Frau, die ihren Namen nicht nennen mag, nicht einbinden. Ja, sie ist gerade dabei, das Grab ihrer Familie zu pflegen, in dem "sicher drei oder vier Generationen liegen". Und sie sagt, sie tue es gerne, "weil meine Mutter sich darüber freut". Aber für sich selbst hat die 60-Jährige entschieden, dass sie eines Tages verbrannt und anonym beerdigt werden will. "Ich möchte nicht, dass meine Kinder sich verpflichtet fühlen, ein Grab zu pflegen. Man kann auch so an jemanden denken."

Was brauchen die, die noch leben, zur Erinnerung an die, die gestorben sind? "Ich weiß genau, wer wo wohnt", sagt Renate Tews auf dem Weg zum Grab von Freunden. Ein Gang über den Friedhof ist auch ein Gang entlang der vielen Gesichter der Erinnerung. Wuchtiger Marmor für die Ewigkeit - wie ein Trotzschrei gegen die Vergänglichkeit. Unscheinbare Namensplatten inmitten der Rasenflächen. Verwitterte Holzkreuze, die kaum noch zu entziffern sind. Was macht ein Grab schön?

Am Tag zuvor hatte Erika Dahlmann noch ihren 85. Geburtstag gefeiert. Jetzt steht sie mit ihrer Tochter am Grab der Familie. Pflicht, Erinnerung, Ruhe - von allem ein bisschen empfindet sie hier. "Ich finde schön, dass man eine Stelle hat, wo man seine Erinnerungen loslassen kann", sagt die Tochter.

Der wohl berührendste Teil des Friedhofs sind die Kindergräber. Vielleicht, weil sie oft etwas fast Fröhliches, Leichtes haben, obwohl die, die hier liegen, nur so ungerecht kurz ins Leben eingetaucht sind. Als wollten ihre Eltern in einer Art Beschützerinstinkt über den Tod hinaus die Wucht des Schmerzes von ihnen fernhalten.

Eine Rassel. Ein buntes Windrad. Ein freundlicher Clown, der auf einem Wal reitet. Stofftiere. Und Engel, immer wieder Engel. "Ruhe sanft, kleiner Liebling." "Hier ruht unser kleiner Schatz."

Und dieses eine Foto auf dem Grab jenes Mädchens, das 2009 nur einen Tag erlebt hat. Die Aufnahme zeigt seine zarte Faust, die zwei Finger umgreift, wohl der Eltern. Dazu das Psalmwort: "Jetzt wird der Herr mit seinen Fittichen dich decken und du wirst Zuflucht finden unter seinen Flügeln." Ein Moment der inneren Stille. Und das Rauschen rückt in weite Ferne.

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