Deutscher Orchesterwettbewerb: Eine Sternstunde, die wehtut

Hätte — ja, hätte die Aufführung des OVH-Wahlstücks nur beim Wettbewerb so fantastisch geklungen wie danach.

Hildesheim. Es gibt diese seltenen Momente, in denen eine Spitzenleistung besonders schmerzlich ist — weil sie zu spät kommt. Als am Samstagmittag in der Halle 39 in Hildesheim die letzten Töne seines Werkes „Bachseits“ ausgeklungen sind, senkt Johannes Stert den Taktstock und verneigt sich vor seinem Orchester.

Die emotionale Verbindung ist auch aus der Ferne spürbar. Und der spärliche Applaus der wenigen Zuhörer beim Sonderpreis-Wettbewerb „Zeitgenössische Musik“ beweist nur, wie viele Menschen gerade eine musikalische Sternstunde verpasst haben. Am Abend beim Preisträgerkonzert sollte noch eine zweite folgen.

Aber es kursiert auch diese CD vom Auftritt am Donnerstag, dem eigentlichen Wettbewerbsbeitrag. Und darauf klingt „Bachseits“ nicht ganz so perfekt. Für Laienohren wahrscheinlich nicht zu hören. Aber die OVH-Bläser quälen diese Winzigkeiten. Winzigkeiten, die vielleicht die 0,4 Punkte ausgemacht haben, die am Ende zum Sieg fehlten.

Am Donnerstag musste das Orchester als Erstes seiner Kategorie auf die Bühne. Undankbar, zumal die Akustik in der Halle gewöhnungsbedürftig ist. Am Samstag, in der Sonderwertung, erklingt „Bachseits“ dann zum zunächst ungekrönten Abschluss noch einmal in bewegender Brillanz — was folgerichtig am Abend wenigstens zum Sonderpreis „Zeitgenössische Musik“ führt.

Aber nach dem Bravourauftritt am Mittag sickert schon langsam durch, dass es diesmal für den Titel nicht gereicht hat. Und auf den Gesichtern der Musiker zeichnet sich mehr und mehr jenes verlorene Lächeln ins Ziellose ab, das gerne aufgesetzt wird, wenn Enttäuschung verborgen werden soll.

Bei der Entscheidungsbekanntgabe der Jury auf dem schmucken Andreasplatz von Hildesheim wird die Vermutung in der prallen Frühjahrssonne zu einer quälend langen Vergewisserung. Johannes Stert entzieht sich der Tortur und wartet angespannt irgendwo abseits auf den Anruf.

Rückblende. So ein Wettbewerb kann sich für ein Orchester mit 74 Musikern bis hinunter zum Benjamin, dem 15-jährigen Thaddäus Hoffrogge, zu einer emotionalen Achterbahnfahrt entwickeln. Erst am Freitagabend erfährt der OVH-Vorsitzende Martin Mudlaff, dass sein Verein am nächsten Vormittag in der Sonderwertung antreten darf, die kategorieübergreifend ausgetragen wird.

Dafür muss das zeitgenössische Werk zumindest in der eigenen Kategorie vorne liegen. Aber die ersehnte Einladung zum Preisträgerkonzert bleibt aus. „Das heißt nichts“, beruhigen sich die Musiker. Nicht zwangsläufig werden immer die Sieger eingeladen.

Um 23 Uhr dann doch noch der erlösende Anruf. Schlagartig hebt sich die Stimmung. Zwei weitere Auftritte am Samstag sind gesichert. Und der stellvertretende Vorsitzende Stefan Willuweit ist erleichtert, dass die Hannoveraner Harfenistin Angelika Klöhn als Ersatz für die am Donnerstag schon wieder abgereiste Ute Blaumer nicht umsonst eingekauft wurde. „Das heißt nichts“ — jetzt muss der Satz herhalten, um auf die Euphoriebremse zu treten.

Aber Erwartungen lassen sich nur schwer kleinreden: Nach drei Siegen hat — zumal im Jahr des 100-jährigen Bestehens — Platz zwei für niemanden hier irgendeinen Reiz. Zumindest nicht ohne ein paar Tage des schmerzlindernden Abstands. Als der Jurysprecher am Samstag um kurz nach halb zwei die Bekanntgabe der Ergebnisse mit dem Satz einleitet: „Welch eine wunderbare Stimmung hier auf dem Platz“, kann er die ahnungsvolle Bläsergruppe aus dem Bergischen jedenfalls nicht gemeint haben.

Und auch wenn die Musiker wegen des Preisträgerkonzerts am Abend auf das Champions-League-Finale verzichten müssen: An diesem Tag sind sich der Orchesterverein Hilgen und der FC Bayern München plötzlich ganz nah.

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