Abschied von Johannes Stert: Parsival heilt nicht jede Wunde

Ein letztes Mal verzehren sich Johannes Stert und der OVH füreinander — ehe die Tränen fließen.

Altenberg. An der deutschen Geschichte trägt der 9. November im Guten wie im Schlechten schon schwer genug. In die kollektive Erinnerung des Orchestervereins Hilgen (OVH) wird er nun auch als der Tag des Abschieds von Johannes Stert eingehen. Es ehrt Dirigent wie Orchester, dass ihr (vorerst?) letztes gemeinsames Programm nicht allein zum packenden wie bewegenden Schlusspunkt einer 24-jährigen Zusammenarbeit gerät, sondern auch als musikalischer Kommentar zur geschichtlichen Spannbreite des Tages verstanden werden kann.

Fast alle sind sie gekommen, um diese so fruchtbare Zusammenarbeit noch einmal zu würdigen und zu feiern. Das gilt für die Musiker, die sich selbst durch ein gebrochenes Schlüsselbein oder eine erst drei Wochen zurückliegende Geburt nicht von der Teilnahme abbringen lassen. Das gilt ebenfalls für das Publikum, das keine der 500 Karten übrig lässt und sich auch vor dem Gitter zum Innenraum des Altenberger Doms noch sammelt.

Zunächst bekommt es „The Power of Rome and the Christian Heart“ zu hören, eine Komposition von Percy Grainger (1882—1961) für Blasorchester und Orgel. Im Zweiten Weltkrieg entstanden, verleiht Graingers nach eigener Einschätzung bedeutendstes Werk dem Leid und Gewissen des Einzelnen angesichts der Bedrohung durch die Mächtigen Ausdruck.

Die feinen Läufe winden sich, wie sich die gequälte Seele windet. Und das Machtvolle, Majestätische eines Blasorchesters entfaltet, durch den Hall des Doms noch verstärkt, hier seine ganze Bedrohlichkeit.

Mag sein, dass das Publikum dadurch nachhaltig verunsichert ist — jedenfalls werden der Altenberger Domorganist Andreas Meisner und das Orchester um den verdienten Applaus gebracht, weil sich offenbar erst beim wieder einsetzenden Stimmen des Orchesters allen erschließt, dass das Werk zu Ende ist, sich dann aber nur noch zaghaft ein paar Hände regen.

Das sollte beim folgenden Parsival anders werden. Wieder hat Johannes Stert ein Arrangement geschrieben und dafür seine Lieblingsoper von fast fünf Stunden auf 40 organische Blasorchester-Minuten verdichtet.

Schon allein das ist ein Wunderwerk. Und eine Art Vermächtnis — weil in diesen 40 Wagner-Minuten noch einmal alles aufscheint, was Stert und dem OVH in dem gemeinsamen Vierteljahrhundert so viel bedeutet hat: neue, sinfonische Ausdrucksformen zu finden, Grenzen zu überschreiten und die Blasmusik endgültig aus ihrer Festschreibung auf die volkstümliche Festzeltglückseligkeit zu befreien.

Jetzt bekommt die majestätische Qualität des OVH etwas Strahlendes, das den Dom und die Herzen füllt. Und dieses Strahlen ist umso eindrücklicher, als es auf der Fähigkeit fußt, im nächsten Moment wieder zu größter musikalischer Zartheit zurückgenommen zu werden — diesmal sogar bis hin zu Sprech- und Gesangseinlagen.

Dann wieder bebt Stert und mit ihm die Plattenglocken, deren Klang nun allerdings nicht ganz so atemberaubend ist wie die Geschichte ihrer Beschaffung für dieses Konzert. Geschenkt. Wie sich OVH und Dirigent hier ein letztes Mal füreinander verzehren, reißt die Zuschauer nach den Schlussakkorden in Sekundenschnelle von den Bänken und Stühlen — während in den Orchesterreihen die ersten Tränen rinnen.

Auch wenn Parsival am Ende der Oper mit dem heiligen Speer Amfortas’ doch eigentlich unheilbare Wunde schließt, die Wunde der Trennung von Stert und OVH ist eben noch nicht geschlossen. Was sich schließt, ist erst einmal nur ein Kreis: Als Zugabe ist mit Max Regers „Benedictus“ noch einmal Sterts erstes Arrangement zu hören, das er einst für den OVH geschrieben hat.

Beim anschließenden Empfang im evangelischen Gemeindesaal in Burscheid bleibt dann bis weit nach Mitternacht noch Zeit für gegenseitige Liebesbekundungen: an den „Meister der unvollendeten Sätze“ (OVH-Vorsitzender Martin Mudlaff über Stert), dem das Orchester als Dank ein Buch voller persönlicher Widmungen überreicht; und im Gegenzug an das Orchester, das von Stert mit einer halbstündigen improvisierten Dankesrede in allen Registern gewürdigt wird.

Er habe beim Aufwachen am Sonntag Tränen in den Augen gehabt, erzählt Stert dann noch. Und niemanden wundert, dass sie am Abend wieder zurück sind.

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