Michael Okroy über Berichte von Journalisten, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs den Wiederaufbau in Wuppertal begleiteten 1945 entstand neues politisches Leben

Wuppertal · Michael Okroy über Journalisten, die nach Ende des zweiten Weltkriegs den Wiederaufbau in Wuppertal begleiteten.

 Wuppertal in Ruinen: Die zerstörte Innenstadt von Elberfeld mit Blick auf die Herzogstraße um ca. 1944/45. 

Wuppertal in Ruinen: Die zerstörte Innenstadt von Elberfeld mit Blick auf die Herzogstraße um ca. 1944/45. 

Foto: Stadtarchiv

Sommer 1945: Wuppertal lag in Trümmern. Rund 8000 Häuser mit mehr als 40 000 Wohnungen sind vollständig zerstört, etwa 16 000 Menschen getötet worden. Verheerungen verursachte der von Nazi-Deutschland entfesselte Krieg, der ein rassistisch motivierter Eroberungs- und Vernichtungskrieg war, nicht nur an Leib und Leben. Er zog auch die seelische und geistige Verfassung der Befreiten in arge Mitleidenschaft. Wie in ganz Deutschland stand vor der Rückkehr zu Zivilisation und Menschlichkeit auch in Wuppertal anfangs das tägliche Durchkommen im Vordergrund. Resignation und Selbstmitleid, Glück und Euphorie, Trauer und Verzweiflung lagen dicht beieinander und waren oft davon abhängig, auf welcher Seite man im NS-Unrechtsstaat gestanden hatte. Als im Juni 1945 britische Soldaten die Amerikaner als Besatzungsmacht ablösten, erkundeten in deren Auftrag auch Journalisten, Schriftsteller und Intellektuelle das zerstörte Land. Sie begleiteten den politisch-kulturellen Wiederaufbau oder spürten dem geistigen Zustand der Bevölkerung nach.

Julius Posener und Stephen Spender, im Auftrag der britischen Militärregierung unterwegs, bereisten Westdeutschland und machten auch in Wuppertal Station. Ihre aus der Perspektive der Befreier verfassten Aufzeichnungen sind höchst aufschlussreich. Der distanzierte, von außen eingenommene Blickwinkel ermöglichte erst jene Klarheit und kritische Urteilskraft, zu der viele der im materiellen Überlebenskampf stehenden, zwischen Schuldgefühl und Selbstrechtfertigung schwankenden Befreiten oft nicht in der Lage oder willens waren. Julius Posener erkundete 1945/46 die britische Besatzungszone. Im Herbst 1946 kam er auch nach Wuppertal, wo „überall Fassaden stehen; aber die Wohnungen dahinter sind rein ausgebrannt“. Eine Krankenschwester vertraute ihm an: „Ich habe ja nichts gegen ‚richtige‘ Bomben“, fügte aber noch selbstbewusst hinzu, „daß solche Kampfmethoden vielleicht nicht Beispiele reiner Menschlichkeit“ seien. Am Beispiel Wuppertals erkannte Posener, wie der für den Sieg über Nazi-Deutschland notwendige Bombenkrieg aber auch eine soziale ‚Ungerechtigkeit‘ herstellte: „[…] die Fabriken haben am wenigsten gelitten und einige der schönen Villenstraßen an den Hängen sind noch erfreulich angesehen. […] Nie habe ich eine Zerstörung gesehen, die mit so großem Recht den Namen tragen könnte: ‚Krieg den Hütten, Friede den Palästen‘.“

Julius Posener beobachtete in der Bergischen Region das neu entstehende politische Leben, so etwa den Wiederaufbau der KPD, die im Herbst 1946 in Wuppertal ihre erste Funktionärstagung in NRW abhielt. Besonders beeindruckte ihn, der selbst Emigrant war, die Begegnung mit jüdischen KZ-Überlebenden, die sich „von Gott und der Welt verlassen fühlten“ und für die man – „geschmackloserweise in Nazi-Sammelbüchsen“ – Straßensammlungen durchführte. Lakonisch stellte er fest: „Diese Juden taten, meine ich, was ihnen zu tun übrig blieb, als sie dorthin zurückkehrten, wo sie herkamen. Dass sie es gerne getan hätten, kann man nicht behaupten“. Bei jenen Deutschen, die nicht Opfer der Verfolgung geworden waren, registrierte Posener zwar angesichts der monströsen NS-Verbrechen ein „Schuldgefühl, aber auch einen starken Drang nach Selbstrechtfertigung“.

Der britische Schriftsteller Stephen Spender lernte schon im Sommer und Herbst 1945 die Stadt und ihr Umland kennen. Als Mitglied der „Alliierten Kontrollkommission“ oblag ihm unter anderem die Reorganisation der öffentlichen Bibliotheken: „Ich war beauftragt, das Bibliothekspersonal von Parteimitgliedern und die Bibliotheken selbst von ‚Naziliteratur‘ zu säubern. Dabei wollten wir [diese] Bücher nicht vernichten, sondern sie in einem getrennten Raum hinter Schloß und Riegel aufbewahren.“ So ist es bis heute möglich, unter Angabe einer plausiblen Begründung in der Stadtbibliothek Elberfeld zeitgenössische Publikationen von NS-Prominenten wie Joseph Goebbels und anderen auszuleihen. Bei seinen Inspektionsreisen begegnete Spender auch dem stellvertretenden Wuppertaler Bibliotheksdirektor, der sein Mitleid weckt: „Dr. Springmann sah traurig, alt und sanft aus und ich mochte ihn.“ Was Spender offenbar nicht wusste: Als NS-Kulturfunktionär hatte Springmann jene Empfehlungslisten erarbeitet, auf deren Grundlage ab 1933 regelmäßig so genannte „undeutsche“ Literatur aus den öffentlichen Bibliotheken Wuppertals aussortiert, vernichtet oder in „Giftschränken“ weggesperrt wurde. Im Fokus dieser als „geistiger Hausputz“ bezeichneten Maßnahmen standen die Werke jüdischer, pazifistischer und linker Autorinnen und Autoren, darunter Vicky Baum, Gabriele Tergit, Anna Seghers, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Joseph Roth, Erich Maria Remarque oder Kurt Tucholsky.

Katastrophale Kulturpolitik
und Verbrechen

Stephen Spender sah sich in Wuppertal aber nicht nur mit den katastrophalen Folgen der NS-Kulturpolitik konfrontiert, sondern ganz unmittelbar auch mit den Verbrechen der Nationalsozialisten. Im Spätsommer 1945 erlebte er die Entdeckung eines Massengrabs im Burgholz, in dem ein Kommando aus Wuppertaler Kripo- und Gestapoangehörigen Anfang März 1945 30 Männer und Frauen, allesamt so genannte „Fremdarbeiter“, nach ihrer Ermordung verscharrt hatten. Im britischen Offizierskasino, „daß außerhalb von Wuppertal in angenehmer ländlicher Umgebung liegt“, zeigte man ihm Fotografien vom Tatort und der Leichen, die man in Anwesenheit des noch von den Amerikanern eingesetzten Oberbürgermeisters Dr. Eugen Thomas im September exhumiert hatte. Er notierte: „Einige Photos zeigen den Bürgermeister, mit dem ich noch am Morgen gesprochen hatte, sowie einige andere bekannte Wuppertaler neben den Leichen. Es war außerordentlich, das leere, ausdruckslose, widerstrebende Gesicht des Bürgermeisters auf der Photographie mit seinem energischen, geschäftsmäßigen Auftreten von heute morgen zu vergleichen. […] Die Offiziere berichteten mir, der Bürgermeister habe nach der Entdeckung sofort behauptet, nichts von dem Grab zu wissen. Beim Verhör gab er dann zu, sich zu erinnern, sagte aber, daß es ‚damit seine Ordnung‘ gehabt habe: es handle sich um die Leichen ‚krimineller Elemente‘, die man aus guten Gründen erschossen habe.“ Schockierend deutlich wird hier, wie unterentwickelt noch das Unrechtsbewusstsein in dieser frühen Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie gewesen ist.

Berichte wie die von Julius Posener und Stephen Spender zeigen am Beispiel von Wuppertal ein Land in Auflösung und eine Gesellschaft, in der sich die Wege von Besatzern und Befreiten, von Vertriebenen und Mitläufern, Tätern und Opfern beständig kreuzten und manchmal zu schmerzhaften Begegnungen führten. Dass die Berichte auch Einblicke freigeben in die deutsche Nachkriegsmentalität der Selbstbezogenheit und des Selbstmitleids, ist in erster Linie das Verdienst der ausländischen Deutschlandreisenden, die selbst manchmal Vertriebene waren und 1945 als Befreier zurückkehrten.

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