Zwischen geschickt und infam

Die Einsicht in die Notwendigkeit eines höheren Renteneintrittsalters scheint auch in anderen EU-Staaten da zu sein.

Noch 1950 starb ein deutscher Mann, statistisch gesehen, mit 64,6 Jahren. Dieser Durchschnittsmensch schaffte es also nicht mal, seinen Rentenantrag zu stellen, geschweige denn Geld zu kassieren. Heute sind die Zeiten friedlicher, die Ernährung ist ausgewogener und die medizinische Versorgung besser. Weil es uns so viel besser geht, leben Männer im Schnitt bis hoch in die Siebziger, Frauen werden sogar deutlich über 80 Jahre alt. Und jedes Jahr steigt die Lebenserwartung weiter. Wunderbar.

Doch es gibt eine gerne verdrängte, aber unangenehme Kehrseite: Die Altersversorgung, die auf dem sogenannten Generationenvertrag beruht, wird künftig noch weniger als heute funktionieren. Denn die im Verhältnis zu den Rentenempfängern kleiner werdende Gruppe der Erwerbstätigen wird nicht bereit sein, einen deutlich höheren Teil ihres Einkommens als heute in die Rentenkasse zu zahlen. Also bleibt nur, so hart das auch ist: Leistungskürzung in Form geringerer monatlicher Renten oder reduzierte Bezugsdauer.

Insofern ist der EU-Vorschlag logisch. Das - je nach Sichtweise - Geschickte, beziehungsweise Infame daran ist die neue Automatik, die bei steigender Lebenserwartung das Renteneintrittsalter anhebt. Das führt dazu, dass sich die Politik für Jahrzehnte öffentliche Renten-Debatten und entsprechende Proteste erspart. Ähnliches kennen wir übrigens von der Lohn- und Einkommenssteuer: Durch die Progression erleben die meisten jedes Jahr eine automatische Steuererhöhung, die kein Parlament beschließen muss.

Für Rentner oder ältere Arbeitnehmer hat die EU-Idee den Vorteil, dass sich ihre Situation nicht oder unwesentlich verschlechtert. Jüngere hingegen können sich auf ein Arbeitsleben bis 70 oder 75 einrichten.

Besonders hart träfe das die Rentner in den meisten anderen EU-Ländern, die sich meist erheblich früher als wir aufs Altenteil zurückziehen. Schon eine Rentengrenze von 65 Jahren wäre dort für viele ein Schock. Das wird Grummeln geben. Doch die Einsicht in die Notwendigkeit eines höheren Renteneintrittsalters scheint auch in diesen Staaten da zu sein. So blieben jetzt die Proteste in Frankreich ungewohnt moderat, als es um die Abschaffung der liebgewonnenen Rente mit 60 ging.

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