Meinung Worum es bei dieser Bundestagswahl geht

In der aktuellen Legislaturperiode, die in spätestens 30 Tagen endet, wenn der neu gewählte 19. Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammengetreten sein wird, hatte eine vergleichsweise große Minderheit der Deutschen das Gefühl, von keiner Partei wirklich im Parlament vertreten zu werden.

 Ulli Tückmantel.

Ulli Tückmantel.

Foto: Schwartz, Anna (as)

Dieses Gefühl war nicht nur eine Stimmung, sondern entsprach der Wirklichkeit — und zwar sowohl inhaltlich wie auch nach Zahlen.

Bei der Bundestagswahl 2013 lag die Wahlbeteiligung mit lediglich 71,5 Prozent auf dem zweitniedrigsten Stand seit 1949. Hinzu kam, dass sowohl die FDP als auch die AfD aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde jeweils knapp den Einzug in den Bundestag verpassten. Rechnet man die abgegebenen Stimmen zusammen, die nicht zum Einzug einer Partei in den 18. Deutschen Bundestag führten, so entspricht das 15,7 Prozent der Wähler.

Das bedeutet in harten Zahlen: 61,9 Millionen hätten wählen dürfen, 44,3 Millionen taten es tatsächlich — und von diesen 44,3 Millionen blieben knapp sieben Millionen ohne politische Vertretung im Bundestag. Das sind mehr Menschen, als Berlin, Hamburg und München zusammen an Einwohnern haben.

In einer repräsentativen Demokratie kann es nicht ohne Folgen bleiben, wenn inklusive der Nichtwähler satte 40 Prozent der Wahlberechtigten keine oder eine ungeeignete parlamentarische Vertretung ihrer Interessen haben. Die große Koalition hat diesen Effekt noch verstärkt. Zur Erinnerung: Alternativ hätte die SPD mit Grünen und Linken (320 von 631 Sitzen) vier Jahre lang selbst den Kanzler einer rot-rot-grünen Regierung stellen können.

Stattdessen gestaltete sie, angeführt von einer im Herzen sozial-protestantisch-pragmatischen CDU-Kanzlerin, in der großen Koalition über die Strecke von vier Jahren inhaltlich überwiegend sozialdemokratische Politik ab; mal etwas roter, mal etwas schwarzer lackiert: Mütterrente, Rente mit 63, Mindestlohn, Pflegereform, Ehe für alle und dergleichen mehr. Die einzige Opposition im Bundestag saß ebenfalls links und kritisierte (sehr verkürzt gesprochen), das sei ihr alles noch nicht sozialdemokratisch genug.

Weder konservativere noch liberalere Positionen waren im 18. Deutschen Bundestag in anschlussfähiger Form vertreten. Dies liefert zumindest einen Teil der Erklärung für die Radikalisierung der deutschen Öffentlichkeit an ihren Rändern in den zurückliegenden Jahren. Während die FDP aus dem Debakel von 2013 den Schluss zog, sich von einer Klientel- zu einer Positions-Partei reformieren zu müssen, rückte die AfD zusehends an den äußersten rechten, völkisch-nationalen Rand — und damit ins Abseits. Der weitaus größere Teil der Deutschen hat spätestens seit der US-Wahl im November 2016 begriffen, was dabei herauskommt, wenn man glaubt, sich heraushalten und die Politik anderen überlassen zu können.

Morgen geht es vor allem darum, nicht zuhause zu bleiben. Es geht darum, die Zukunft nicht denen zu überlassen, die selbst keine haben und sie deshalb auch niemand anderem gönnen.

Morgen kann ein guter Tag für unser Land werden. Während über Jahre nur die Jugendorganisationen der Extremisten, die Linksjugend und die Junge Alternative Zuläufe hatten, verzeichnen die Jusos heute zehn Prozent mehr Mitglieder als im Herbst 2016. Auch bei den Jugendorganisationen von CDU, FDP und Grünen sind die Mitgliederzahlen gestiegen, ebenso bei allen Mutterparteien.

Zusammengefasst: Das Land mag sich in den zurückliegenden Jahren an den Rändern radikalisiert haben, aber in der großen Summe hat es sich vor allem politisiert. Die SPD freut sich über mehr als 40 000 Neumitglieder, die FDP kletterte auf mehr als 60 000 Mitglieder — das ist ein historischer Höchststand. CDU und Grüne berichten ähnliches.

Das alles sind sehr gute Zeichen. Denn eine Bundestagswahl ist kein Tag der Abrechnung und ein Stimm-, kein Denkzettel. Die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag ist eine Zukunftsentscheidung. Es geht um kein Zeugnis für die Vergangenheit, sondern darum, welche Weichen in den kommenden vier Jahren gestellt werden — und wer sie in welche Richtung stellen soll.

Morgen geht es darum, wem die Deutschen zutrauen, die Altersversorgung der Zukunft wirklich zu gestalten, statt sie vertagen. Morgen geht es darum, wem die Deutschen zutrauen, die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern, statt bloß Breitbandkabel zu verlegen. Morgen geht es darum, für welches Europa und welche Werteordnung Deutschland in Zukunft stehen soll, ob wir Sicherheit und Frieden im Konzert freier und fortschrittlicher Nationen erreichen, oder in nationaler Kleingeisterei verzagen wollen. Morgen geht es darum, sich selbst eine Stimme zu verleihen.

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