Meinung Was wir jetzt wirklich brauchen — und was nicht

Am 3. Oktober 2010 hielt der damalige Bundespräsident Christian Wulff jene Rede, in der er den berühmten Satz „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ sagte und damit einen Geist aus der Flasche ließ, der bis heute nicht einzufangen ist.

Meinung: Was wir jetzt wirklich brauchen — und was nicht
Foto: Schwartz, Anna (as)

Genau drei Jahre später, am 3. Oktober 2013, sank vor der italienischen Insel Lampedusa ein überladener libyscher Kutter, bei dessen Untergang 390 von 545 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea ertranken.

Seitdem wird in Deutschland im Abstand von Monaten oder mal auch nur von Wochen eine das Land spaltende Dauer-Debatte geführt, in der alles wild durcheinander geht: Flüchtlinge, Islam, Terrorismus, Europa. Genützt hat dieses jahrelange bisweilen hysterische Geschrei seitdem ausschließlich denjenigen, die Deutschlands liberale und offene Gesellschaft sowie Europa als Bollwerk gegen Nationalismus und Fundamentalismus zerstören wollen.

In der Debatten-Folklore der alten Bundesrepublik waren wir gewohnt, dass es nach einem schrecklichen Ereignis eine Zeit lang dauerte, bis Fakten und Fiktionen von einander zu unterscheiden waren. In der Zwischenzeit unterhielt der großbuchstabige Boulevard das Publikum mit Privatismen von Opfern und Beschuldigten („Ehefrau entsetzt: Er war so ein guter Vater“), während ein Nachrichten-Magazin hintergründelte („Der frühere Luftwaffen-Helfer Heinz G. zweifelt die Kompetenz der Experten an“) und die übrige politisch-mediale Klasse diskutierte, wer dafür zurücktreten muss.

Am Ende aber lernte das Land meist dazu, änderte Gesetze und stellte sich besser auf als zuvor. All das gilt auch für den aktuellen Fall des Berliner Anschlags, nur dringt es in der Schreierei der Dauer-Debatte zu vielen Menschen nicht mehr durch.

Im längst geänderten Asylverfahren flog der Terror-Verdächtige als angeblicher Ägypter sofort auf. Seine Abschiebung funktionierte weder in Italien noch in Deutschland, weil Tunesien sich querstellte — das ist (wie auch der Einstufung als sicheres Herkunftsland) ein Ansatz für konstruktive Politik, dazu gehört eine Verlängerung der Abschiebehaft.

Die Sicherheitsbehörden haben bei der Entdeckung und Überwachung des Verdächtigen keineswegs versagt, im Gegenteil. Es lief gut, bis ein Mangel an Personal und rechtlich hinreichenden Gründen ihn im Herbst vom Radar verschwinden ließ — an beidem kann man konstruktiv arbeiten, und am besten so, dass es mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Es ist zudem ein guter Zeitpunkt noch einmal mit dem Berliner Polizeipräsidenten zu sprechen, der seinen 23 000 Polizisten im Juni per Dienstanweisung verboten hat, ihre dienstlichen Waffen außerhalb des Dienstes zu tragen. Vielleicht hält er es ja heute doch nicht mehr für eine gute Idee.

Was aber das Land jetzt wirklich nicht braucht, ist eine Fortsetzung der vergifteten Flüchtlings-Islam-Terrorismus-Europa-Hysterie, sondern den breiten gesellschaftlichen Konsens für eine Agenda zur Sicherung unserer Freiheit. Wollen wir das Land mit Betonsperren gegen Lkw zustellen, Eingangs-Kontrollen und Rucksack-Verbote an jeder Fußgängerzone? Oder vielleicht doch lieber 30 000 neue Polizisten, die sich dann mit den Störern statt den Steuerzahlern beschäftigen?

Als Volkswirtschaft mit einem Steueraufkommen von rund 600 Milliarden Euro geben wir für Hartz-IV-Leistungen rund 40 Milliarden Euro pro Jahr aus — und erkaufen uns damit nebenbei einen einigermaßen erträglichen sozialen Frieden im Land. Was ist uns unsere Sicherheit wert? Weniger? Mehr als eine schwarze Null im Haushalt? Entscheidend ist nicht, welche Summen die politischen Parteien aufrufen, sondern dass sie es überhaupt tun und nicht alle drei Wochen ihre Positionen dazu ändern.

Gleiches gilt 2017 erst recht für das, was früher einmal Außenpolitik war. Das Erstarken der populistischen Kräfte in den Ländern Europas führt nämlich dazu, das Flüchtlinge sich für Herkunfts- und Transitländer zu einem lukrativen Pfand entwickeln, mit dem am internationalen Pokertisch um politische Zugeständnisse, Geld und Entwicklungsperspektiven gekämpft wird. Deutschland und die EU müssen sich entscheiden, ob sie in Anlehnung an den Türkei-Deal das weitere Auslagern ihrer Flüchtlingspolitik in Drittstaaten weitertreiben wollen — und bis zu welchem Preis.

Wenn es nicht gelingt, eine seriöse Debatte über eine mehrheitsfähige Sicherheits-Agenda anstelle der fortwährenden Hetze gegen alles und jeden zu setzen, wird die Radikalisierung der Ränder weiter zunehmen. Das perfide AfD-Spiel, Menschen Angst zu machen und ihnen Flüchtlinge, Muslime und Minderheiten als Schuldige vorzuführen, spielt direkt den Hintermännern des Terrors in die Hände. Verantwortungsvolle Politik darf dazu nicht weiter die Stichworte liefern.

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