Meinung Richtig streiten an Weihnachten

Die Hälfte der Deutschen rechnet mit Streit unterm Tannenbaum. Nur die Hälfte? Wenn man die politisch-kulturelle Entwicklung des Jahres noch einmal Revue passieren lässt, Trump und Pegida inklusive, mutet das fast wenig an.

Hassmails, "postfaktische" Lügen im Netz, Beleidigungen und Wüsteres - es scheint, als habe jemand den Leuten plötzlich ein aggressiv machendes Mittel ins Trinkwasser geschüttet. Oder bricht hier nur durch, was unter der Oberfläche immer schon da war? Die Antwort lautet: Beides stimmt.

Die Menschen sind und werden tatsächlich angeheizt durch Leute, die auf Konfrontation der Bevölkerungsgruppen gegeneinander setzen und davon politisch profitieren. Anonymität und Vereinzelung haben zugenommen, das Internet erlaubt es jedem, niedere Instinkte auszuleben. Meist straflos, aber langfristig nicht folgenlos. Jedenfalls nicht für die Gesellschaft. Doch neu ist das nicht. Stets gab es welche, die die Faust ballten, freilich bisher in der eigenen Tasche. Weil ihnen vermeintlich oder tatsächlich Unrecht getan worden war, weil sie alles nicht verstanden, weil sie es anders wollten, weil sie Angst hatten vor Veränderung oder sonst irgendeinen Frust schoben. Das ist die eine Seite. Die andere: Noch immer wählen 85 Prozent nicht rechts, noch immer helfen sich Nachbarn und Freunde, noch immer sind die Kirchen voll an Weihnachten und die Familien von gegenseitiger Verantwortung, Fürsorge, ja Liebe geprägt. In den Generationen und über die Generationen hinweg. Was gelegentliche Auseinandersetzungen auch an Weihnachten nicht ausschließt.

Diese Mehrheit, nennen wir sie den zivilisierten Teil der Zivilgesellschaft, ist nun freilich gefordert, für ihren Lebensstil auch zu kämpfen. Ihn offensiver als bisher zu verteidigen, gegen die vielen Rüpler, Rowdies, Parolenverbreiter, Lügner, Sprücheklopfer, Hassprediger, Gedankenlosen, Antidemokraten und Rassisten. In der Politik wie im Alltag. Denn ein aggressives gesellschaftliches Klima dehnt sich aus wie übelriechendes Gärgas. Wer dem anderen im Straßenverkehr den Stinkefinger zeigt, kriegt es morgen als "Sack, geh aus dem Weg" vielleicht im Supermarkt zurück. Bei all dem kommt man der Lösung von wirklich vorhandenen Problemen übrigens nicht näher, denn Aggression und Kompromissbereitschaft sind keine vereinbaren Verhaltensweisen. Aggression zerstört. Es gilt also, eine andere, kultivierte Form der Auseinandersetzung zu führen und durchzusetzen, eine, die argumentiert, die zu überzeugen versucht, und die zuhört, eine, die den anderen immer respektiert. Das gilt für die große Politik. Das gilt für den Alltag. Und das gilt auch für das Fest unterm Tannenbaum. Die Hälfte der Bevölkerung, die dort nicht mit Streit rechnet, darf sich freuen. Die andere sollte es als Übung für die unweigerlich kommenden Auseinandersetzungen des neuen Jahres nehmen.

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