Eine Sternstunde der Demokratie

Heiner Geißler sprach anfangs von einem Demokratie-Experiment, tatsächlich hat er unserem politischen System eine Sternstunde beschert.

Mit seinem Schlichterspruch erreichte der Mediator das, was nach der Eskalation der Gewalt in Stuttgart kaum jemand für möglich gehalten hatte: die verhärteten Positionen zwischen protestierenden Bürgern und Projektplanern aufzuweichen, das Gift der gegenseitigen Unterstellungen mit dem Gegengift der Sachlichkeit zu neutralisieren.

Hunderttausende Deutsche erlebten in den vergangenen Wochen vor ihren Fernsehern, wie Demokratie im Idealfall funktionieren kann. Während in den Parlamenten Polemik, Sprücheklopferei und unverständlicher Fachjargon die Politikverdrossenheit schüren, gelang es Geißler, die Menschen mit drei Kunstgriffen zu erreichen:

Erstens verhinderte er, dass die Streitenden aufeinander losgingen und brachte sie dazu, gesittet ihre Sicht der Dinge darzustellen. Zweitens sorgte er dafür, dass die Argumente und Gegenargumente nicht im rhetorischen Nebel der Strategen verschwanden, sondern plastisch zu Tage traten. Und drittens zeigte er, dass sich die demokratische Meinungsbildung nicht auf das Konsumieren markanter Sprüche verkürzen lässt, wie uns die Wahlkämpfe vorgaukeln, sondern eine in ihrer Akribie zum Teil auch ermüdende Detailanalyse mit sich bringt. Gerade diese Anstrengung, die Geißler seinem Publikum abverlangte, führte bei den Kritikern und Befürwortern des Projekts zu dem gemeinsamen Grundgefühl, ernst genommen zu werden.

Geißlers geglücktes Experiment ist kein Plädoyer für eine direkte Demokratie der Volksentscheide. Aber es zeichnet einen Weg vor, die bestehende repräsentative Demokratie zu sensibilisieren, zu stärken und um ein Instrument zu bereichern. Warum sollte es in einem Schlichterverfahren nicht auch gelingen, andere Konfliktherde wie etwa Gorleben durch ein Schlichterverfahren nach dem Stuttgarter Vorbild zu befrieden?

Eine Lektion hat Heiner Geißler der politischen Klasse in jedem Fall mit auf den Weg gegeben: Nie wieder wird es in Deutschland ein Großprojekt geben, das an den Bedenken vieler Menschen vorbei durchgedrückt wird.

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