Meinung Ein Argentinier, der Europa an seine Werte erinnert

Es wirkt wie ein verzweifelter Ruf nach göttlicher Hilfe — in Zeiten, in denen kaum beherrschbar scheinende Kräfte am gar nicht mehr so vereinten Europa zerren. Das schon durch die Eurokrise angeschlagene Projekt droht mit dem durch die Flüchtlingskrise ausgelösten „Jeder ist sich selbst der Nächste“ vollends in Schieflage zu geraten.

Meinung: Ein Argentinier, der Europa an seine Werte erinnert
Foto: Sergej Lepke

Papst Franziskus soll es richten. Mit dem Karlspreis werden traditionell Politiker ausgezeichnet, die sich um das Projekt Europa verdient gemacht haben. Nun soll er Franziskus neben der kirchlichen auch eine weltlich abgeleitete Autorität geben.

Es gab Zeiten in der Geschichte des seit 1950 vergebenen Karlspreises, da ging es mit der europäischen Einigung so schlecht voran, dass man diesen Stillstand nicht durch Benennung eines Verlegenheitskandidaten zu kaschieren versuchte. Neun mal fiel die Verleihung aus. Daran gemessen bestünde heute erst recht Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Da zieht Ungarn als erstes Land Zäune hoch. Die Ministerpräsidentin Polens verbannt bei einer Pressekonferenz die Europaflagge aus dem Raum. Zwei Länder übrigens, deren frühere Repräsentanten (Gyula Horn, Donald Tusk) auch schon den Karlspreis erhielten. Ungarn und Polen sind nicht allein in ihrer zumindest indifferenten Haltung gegenüber der Zukunft Europas. Die meisten EU-Staaten drehen sich weg, wenn es um eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen geht.

Eben dieses Verhalten hat die Karlspreis-Jury im Blick, wenn sie in ihrer Begründung für den aktuellen Preisträger auch an dessen erste Reise als Kirchenoberhaupt erinnert. Diese führte ihn im Juli 2013 im Gedenken an ertrunkene Bootsflüchtlinge nach Lampedusa. Anklagend fragte er dort: „Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können? Wir sind eine Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens, des ‚Mit-Leidens’ vergessen hat: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen.“

Vielleicht verfängt eine solche Botschaft ja nicht nur an den Weihnachtstagen. Und nicht nur bei gläubigen Christen. Vielleicht ist es ja wirklich ein geschickter Schachzug, dass sich die Europäer von einem Argentinier an ihre in Jahrzehnten aufgebauten Werte erinnern lassen.

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