Die Norweger brauchen noch viel Kraft

Ein Prozess, der Wunden wieder aufreißt

Sein Prozess gibt Anders Breivik ein zweites Mal eine Bühne, auf der er sich und seine verquere Sicht darstellen kann. Nach seinen Taten, mit denen er so viel Leid über so viele Menschen brachte, darf er dieses Handeln auch noch vor Gericht erklären. So wenig nachvollziehbar wie die Taten selbst ist seine Rechtfertigung, in „Notwehr“ gehandelt zu haben, um ein Zeichen gegen die Einwanderungspolitik seines Landes zu setzen.

„Der ist verrückt“, ist der erste Impuls als Reaktion auf all das. Für Breivik wäre dieses „Der ist verrückt“ demütigend, sieht er sich doch als politischen Kämpfer. Aber auch für Öffentlichkeit und Angehörige der Opfer würde ein richterlich festgestelltes „Der ist verrückt“ ein ungutes Gefühl hinterlassen: dass die Taten nicht gesühnt würden. Mangels Schuldfähigkeit gäbe es keinen Schuldigen. Damit zu leben, wäre schwer, auch wenn der Mann für immer in der Psychiatrie bliebe.

Zwiespältig wie die Beurteilung des Angeklagten fällt die Betrachtung der Verteidiger aus. Es scheint, als nutzten sie die nationale Tragödie für Publicity in eigener Sache. Und dann vertreten sie auch noch gegen besseres Wissen das absurde Notwehr-Argument, das, zu Ende gedacht, gar zum Freispruch führen könnte. Doch jeder Angeklagte hat das Recht auf einen fairen Prozess. Dazu gehören Anwälte. Wenn sie für ihren Mandanten sprechen, verteidigen sie den Menschen, nicht seine Taten.

Aber warum muss das in aller (Fernseh-)Öffentlichkeit geschehen, warum darf Breivik Wunden neu aufreißen, die nicht verheilt sind? Hier überschreitet der Öffentlichkeitsgrundsatz fast die Schmerzgrenze. Dennoch kommen die Medien nicht daran vorbei, die Bilder des Angeklagten und auch seine abstrusen Gedanken zu transportieren.

Fotos der Opfer, von den Angehörigen als Schrei der Mahnung den Medien zur Verfügung gestellt, oder auch Interviews von mit dem Leben Davongekommenen können hier ein Gegengewicht zur schwer zu ertragenden Sicht des Angeklagten schaffen. Die Norweger brauchen noch viel Kraft, die Botschaft von Kronprinz Haakon zu beherzigen, der nach den Taten gewarnt hatte, Barbarei mit Barbarei zu beantworten: „Wir können die schrecklichen Morde nicht ungeschehen machen, aber wir können wählen, was sie mit uns machen.“

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