Akzeptieren, was nicht zu bewältigen ist

Die Auschwitz-Rede wird die Amtszeit von Gauck überdauern

Das Urteil, etwas sei „historisch“, sollte man sparsam einsetzen. Auf die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck am Dienstag zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz trifft das Prädikat jedoch zweifelsohne zu. Der Satz „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“ wird Joachim Gaucks Amtszeit überdauern, und der 70. Jahrestag war der richtige Zeitpunkt ihn zu sagen.

Joachim Gauck wird für diesen Satz nicht bloß Respekt, sondern auch politische Prügel beziehen. Denn laut einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung wünscht sich die Mehrheit der Deutschen das genaue Gegenteil: 81 Prozent der Deutschen wollen die Erinnerung an den systematischen Massenmord an den Juden Europas hinter sich lassen. 58 Prozent würden sogar gern einen Schlussstrich ziehen.

Es scheint, als gelte noch immer die Aussage des israelischen Psychoanalytikers Zvi Rex: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.“ Vor drei Jahren kam der Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages zu dem Ergebnis, dass bei uns latent antisemitische Einstellungen in erheblichem Umfang bis in die Mitte der Gesellschaft verankert sind. Es spricht viel dafür, dass dies auch das Ergebnis eines sowohl im Ansatz falschen wie auch in der Praxis gescheiterten Umgangs mit der eigenen Geschichte ist, nämlich dem deutschen Experiment der Vergangenheitsbewältigung.

Die irrige Erwartungshaltung, Vergangenheit sei zu bewältigen und somit irgendwann dann doch einmal erledigt, erklärt zumindest einen Teil des Unwillens, sich immer wieder mit genau dieser Vergangenheit zu beschäftigen. Einen seiner abstoßendsten Ausdrücke fand dieser Unwille 1998, als Martin Walser von Auschwitz als einer „Moralkeule“ sprach.

Wer so etwas sagt, gesteht vor allem ein, dass er überhaupt von einer Moralkeule zu treffen ist. Und dass es ihm nicht gelingt, Auschwitz als Teil der deutschen Geschichte und damit im Sinne Gaucks der eigenen Identität zu akzeptieren. Auschwitz ist jedoch ebenso Teil der deutschen Geschichte wie Goethes gesammelte Werke. Wenn wir dies nicht anerkennen, behält Zvi Rex für sehr lange Zeit recht.

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