Wie der Frankfurter zum Hot Dog wurde

Der Erste Weltkrieg ist 100 Jahre her. Im Sommer 1918 forderte die Oberste Heeresleitung des deutschen Kaiserreichs angesichts der alliierten Übermacht Friedensverhandlungen. Da stand ein Verlierer längst fest — die deutsche Sprache.

Hamburg. Bis 1914 hörte das beliebteste schnelle Essen auf der Straße in New York auf deutsche Namen: Das Frikadellen-Brötchen hieß „Hamburger“, die Wurst im Brötchen „Frankfurter“. Eher liebevoll kursierte für die in Wahrheit wenig frankfurterische „Worscht“ daneben der Name „Hot Dog“. Auch diese Bezeichnung bezog sich auf die deutsche Herkunft der Streetfood-Spezialität, denn die längliche Wurstform erinnerte schließlich entfernt an einen Dackel. Das wiederum veranlasste die New Yorker Handelskammer noch 1913, den Namen „Hot Dog“ zu verbieten und in Vergnügungsparks wie Coney Island entsprechende Schilder aufzustellen: Niemand sollte auf die Idee kommen, das deutschstämmige Wurstbrötchen bestehe tatsächlich aus Hundefleisch.

Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Während auf den grünen Äckern Flanderns und Frankreichs das erste industrielle Völkergemetzel des 20. Jahrhunderts begann, führten die Kriegsgegner des Deutschen Reichs auf dem Schlachtfeld der Kultur einen Krieg gegen die deutsche Sprache; manchmal auch gegen ihre Sprecher. Nach dem Kriegseintritt der USA 1917 ging der Absatz von Sauerkraut um 75 Prozent zurück; laut New York Times stapelten sich allein in den Lagerhäusern der Region 400 Tonnen davon. Und plötzlich erschien es den Amerikanern weniger schlimm, einen „heißen Hund“ zu verspeisen als für das Wurstbrötchen eine Bezeichnung aus der Sprache der „Hunnen“ zu verwenden. Den immer wieder von den Alliierten bemühten Hunnen-Vergleich hatte Kaiser Wilhelm II. den Deutschen bereits im Juli 1900 eingebrockt, als er in Bremerhaven bei der Einschiffung eines Expeditionskorps zur Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes seine berüchtigte „Hunnenrede“ hielt.

Wie der Frankfurter zum Hot Dog wurde
Foto: dpa

Mit großem Sammlerfleiß hat der Journalist Matthias Heine Beispiele und Anekdoten wie die Namenswandlung vom Frankfurter zum Hot Dog gewandelten Wurstbrötchen (lediglich der Hamburger erwies sich als tilgungsresistent) zusammengetragen, mit denen er auf etwas mehr als 200 Seiten eindrucksvoll veranschaulicht, wie der Erste Weltkrieg die bis dahin recht steile Karriere des Deutschen als Welt- und Wissenschaftssprache beendete.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war Deutsch neben Englisch und Französisch die dritte bevorzugte Sprache auf naturwissenschaftlichen Konferenzen und Kongressen, wichtige Publikationen zu Medizin und Biologie erschienen teils ausschließlich auf Deutsch; Deutsch blieb in Japan auch lange nach dem Zweiten Weltkrieg noch die führende Sprache in der Medizin. Etliche naturwissenschaftliche Nobelpreisträger verbrachten Studienjahre an deutschen Universitäten und erlernten zumindest rudimentär die deutsche Sprache.

Das alles endete mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, die sich im Sommer 1918 so deutlich abzeichnete, dass auch die Oberste Heeresleitung des Kaiserreichs sich der Realität nicht mehr verschließen konnte. Nach den erfolglosen Frühjahrs-Offensiven fürchtete sie einen Durchbruch der an Menschen und Material deutlich überlegenen Alliierten überall an der Westfront — und drängte nun auf Friedensverhandlungen durch die Regierung. Damit schoben die Militärs den Zivilisten die Verantwortung in die Schuhe. Der Niedergang des Deutschen als Sprache von Weltgeltung war da bereits zu großen Teilen vollendet.

Großen Raum gibt Heine (daher auch der Buchtitel „Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland“) der Sprachgeschichte in den einstigen deutschen Kolonien, so zum Beispiel dem heute nahezu vergessenen „Unserdeutsch“, einer auf Papua-Neuguinea entstandenen Variante des Deutschen, die vor etwas mehr als 100 Jahren entstand, als dieser Teil des Bismarck-Archipels für einige Jahre Neupommern hieß. Einige hundert Menschen dort sollen den Pidgin-artigen Deutsch-Dialekt immer noch sprechen.

Matthias Heine, Autor

Der Erste Weltkrieg beendete nicht nur die internationale Karriere der deutschen Sprache, in Deutschland selbst bescherte er ihr auch neue Vokabeln. Dass „08/15“, heute ein Synonym für Massenware unteren Durchschnitts oder unambitionierte Routinen, sich auf ein einstmals hochmodernes deutsches Maschinengewehr des Jahres 1915 bezieht, ist wahrscheinlich bekannter als die Herkunft der Redensart „einen Zahn zulegen“, wenn es um die Erhöhung der Geschwindigkeit geht. „Manch militärische Redensart der Zeit ist uns dunkel, weil wir die Technik oder die kulturelle Anspielung, die dahintersteckt, nicht mehr kennen. Einen Zahn zulegen bedeutet, schneller werden’, weil bei frühen Flugzeugen die Geschwindigkeit mit einem Zahnrad reguliert wurde“, so Heine.

Das Wort „verfranzen“ für „sich verirren“ lasse sich darauf zurückführen, dass der für die Orientierung zuständige Navigator im Flugzeug Franz genannt wurde und der Pilot Emil, so Heine. Ebenfalls aus dem Jargon der Flieger und Luftschiffer stamme die Bezeichnung Wetterfrosch für einen Meteorologen oder einen Offizier, der besonders wetterkundig sei. Auch der Grabenkampf, das Trommelfeuer und die Materialschlacht, die Etappe, das Niemandsland und das Wummern, „das man oft in mittelmäßigen Rockkritiken liest, wenn der Bass mal wieder wummert“ (Heine), sind Übernahmen aus der deutschen Soldatensprache des Ersten Weltkriegs (das Wummern beschrieb fernen, ununterbrochenen Geschützdonner).

Was der Erste Weltkrieg vom internationalen Einfluss der deutschen Sprache übrigließ, erledigte Nazi-Deutschland knapp zwei Jahrzehnte später: Deutsch war bald überall verpönt. 1938 strich die Schweiz das Eszett aus Gründen der geistigen Landesverteidigung. „Die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich beschloss, vom 1. Januar 1938 an in den Volksschulen das ß nicht mehr zu lehren, die anderen Kantone folgten. Nur die ,Neue Zürcher Zeitung’ behielt es bis 1974 bei“, weiß Matthias Heine. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren auch einstmals literarisch blühende Deutsch-Inseln für immer verloren. „Heute twittern junge deutsche Wissenschaftler auf Englisch, obwohl 80 Prozent ihrer Follower Deutschsprachige sind. Es ist der farcenhafte Endpunkt einer Entwicklung, die 1919 begann“, resümiert Heine.

Bei aller befremdlichen Wehmut, die Matthias Heine über den von Deutschen selbstverschuldeten Bedeutungsverlust des Deutschen bisweilen durchscheinen lässt (einschließlich einer etwas romantischen Schlussbetrachtung, was wohl hätte sein können, wenn der Erste Weltkrieg niemals stattgefunden hätte), beschreibt er auch ausführlich, wie rabiat die Deutschen nach dem Sieg über Frankreich und der Reichsgründung 1871 ihrerseits gegen alles Fremdsprachige — vor allem: Französische — innerhalb der Reichsgrenzen vorgingen und das deutsche Vokabular germanisierten.

Nicht ohne Augenzwinkern ob der Namensgleichheit führt Heine den Kampf des preußischen Oberbaurats Otto Sarrazin gegen französische Vokabeln an. 1886 und 1893 ließ Sarrazin fast 1300 Fachtermini eindeutschen: „Aus der Barriere wurde die Schranke und aus dem Retourbillet die Rückfahrkarte. In der ersten Auflage von Dudens Wörterbuch 1880 stehen deshalb noch Perron und Coupé, während die Wörter Bahnsteig und Abteil fehlen. Sie wurden erst 1886 von Sarrazin und seinem Ausschuss als Verdeutschungen vorgeschlagen und setzten sich dann durch.“ Bei einigen Warenbezeichnungen dauerte es länger. Erst während des Ersten Weltkriegs propagierte der Plätzchen-Bäcker Bahlsen für sein Naschwerk die Schreibweise „Keks“. Bis dahin hießen sie „Cakes“. Heine: „Ohne den Krieg würden wir vielleicht schreiben: Das geht mir auf die Cakes!“

Ein fast tragischer Fall, den Heine leider nur halb erzählt, ist der des Philologen und Publizisten Eduard Engel (1851-1938). Engel war 30 Jahre lang stellvertretender Vorsteher des Stenographenbüros erst des Preußischen Abgeordnetenhauses, dann des Reichstags. Bei Heine kommt er vor allem als Verfasser eines „Katechismus“ der Sprach-Puristen namens „Sprich deutsch! Ein Buch zur Entwelschung“ und eines Buches mit dem Titel „Entwelschung. Verdeutschungsbuch für Amt, Schule, Haus und Leben“ vor. Heine: „Die ,Welscherei’ nannte er ,Schändung der schönsten Sprache der Welt’, ,geistigen Landesverrat’, ,krankhafte Entartung’ und ,sprachliche Entvolkung Deutschlands’.“

Für Engels Hauptwerk hat Heine nur einen unverständlich verharmlosenden Satz übrig: „Die militanteste und auch kompetenteste Stimme der Kampagne war der Publizist Eduard Engel, in der Vorkriegszeit Verfasser einer großartigen Stilkunde namens ,Deutsche Stilkunst’, von der Stilpäpste bis heute abschreiben.“ Engel war Jude. Seine Stilkunst erschien bis 1931 in 19 Auflagen. Ohne Ansehen seiner deutsch-nationalen Gesinnung belegten die Nazis ihn 1933 mit einem Publikationsverbot und beraubten ihn aller seiner Einkünfte.

Während Engel 1938 völlig verarmt starb, bediente sich das NSDAP-Mitglied Ludwig Reiners (1896-1957) hemmungslos in Engels Buch und veröffentlichte sein Plagiat 1943 unter dem Titel „Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa“. Der Diebstahl blieb nicht nur während der Nazizeit folgenlos. 1951 gab der C.H. Beck-Verlag es wieder heraus, noch 2007 erschien bei dtv eine überarbeitete Taschenbuch-Ausgabe unter dem Titel „Stilfibel. Der sichere Weg zum guten Deutsch“. In der Tradition Reiners’ wiederum steht vieles, was der inzwischen 93-jährige „Sprach-Papst“ Wolf Schneider in den vergangenen vier Jahrzehnten gepredigt und damit ganze Journalisten-Generationen geprägt hat. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie weit das Vergessen und Verdrehen der einstigen Weltgeltung der deutschen Sprache reicht, macht Heine an einer Folge der US-Zeichentrickserie „The Simpsons“ deutlich, die zu Halloween von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ inspiriert ist: „Papa Homer verwandelt sich darin in ein Insekt. Am Schluss der Story erscheint ein Schild, auf dem das Wort konec steht, tschechisch für: ,Ende’. Autor und Zeichner gingen offenbar selbstverständlich davon aus, dass ein Schriftsteller, der in Prag lebte, auf tschechisch geschrieben hat. Woher sollten sie es auch besser wissen?“ Dass Prag über Jahrhunderte eine deutschsprachige Stadt war — vergessen. Dass Wenzel IV. sich dort zwischen 1389 und 1395 die Bibel ins Deutsche übersetzen ließ, etwa 130 Jahre vor Luther — vergessen. Ohne es zu wissen, hat der Autor der Simpsons-Kafka-Folge recht: konec; Ende.

Muss das alles außer Sprach- und Literaturwissenschaftlern heute noch jemanden interessieren? Heine findet: „Egal kann uns das alles nicht sein. Englischen Muttersprachlern verschafft die Dominanz große Vorteile. Beim prestigeträchtigen EU-Förderungsprogramm Starting Grants war Großbritannien 2015 mit 62 Mitteleinwerbungen am erfolgreichsten, das etwa gleich große Italien schnitt mit 22 Bewilligungen deutlich schlechter ab, und Osteuropa war geradezu dramatisch unterrepräsentiert. Die Mannheimer Germanisten Katharina Dück und Albrecht Plewnia, die über die Geschichte der deutschen Wissenschaftssprache seit Leibniz forschen, führen das darauf zurück, dass die Anträge beim European Research Council grundsätzlich auf Englisch formuliert sein müssen. Alle nicht englischsprachigen Wissenschaftler sind heute in der Situation, in der beispielsweise die Russen um 1900 waren: Wenn sie ausschließlich in ihrer Muttersprache publizierten, nähme ihre Forschungen niemand zur Kenntnis.“

Womit die Geschichte offen bleibt. Denn wer weiß schon, was der „Brexit“ und Trumps amerikanischer Neo-Isolationismus am Ende für die englische Sprach-Dominanz bedeuten? In der EU wird es nach dem Ausscheiden Großbritanniens mit Irland und Malta nur noch zwei muttersprachlich „englische“ Länder. Französisch und Deutsch zu lernen, könnte sich in der EU der Zukunft wieder lohnen.

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