Neueinstudierung von Pina Bauschs „Arien“ Wenn sich eine Tänzerin in ein Nilpferd verliebt

Das Tanztheater Wuppertal studiert Pina Bauschs „Arien“ von 1979 wieder ein: Zwei Stunden bewegt sich das Ensemble im Wasser.

Neueinstudierung von Pina Bauschs „Arien“: Wenn sich eine Tänzerin in ein Nilpferd verliebt
Foto: Ulli Weiss

Wuppertal. Adolphe Binder ist ganz Auge. Seit 1. Mai offiziell im Amt, sitzt die neue Intendantin und Künstlerische Leiterin des Tanztheaters Wuppertal hochkonzentriert im Zuschauersaal des Opernhauses Barmen. Sie hat die Ellenbogen auf die Rückenlehne des Sessels vor sich aufgestützt und schaut gespannt auf die Bühne. Was die Wahl-Wuppertalerin sieht, lässt sie lächeln.

Josephine Ann Endicott leitet die Neueinstudierung von „Arien“. Fünf Tänzer formen eine Linie, verschränken ihre Arme und heben nach ihrer Anweisung erst im Plié, dann immer schneller hüpfend das rechte Knie. Plötzlich rennen sie nach vorne und stoßen eine Art Urschrei aus. Währenddessen probt die rothaarige Breanna O’Mara, die Endicotts Rolle übernommen hat, tief versunken und mit geschlossenen Augen ein Solo. Barbara Kaufmann steht an der Rampe und spricht zu imaginären Zuschauern. Und im Hintergrund grinst ein Nilpferd gegen die Wand.

Endicott, Pina Bausch-Protagonistin seit der Gründung des Ensembles 1973, wirkt erschöpft. Die zarte Australierin, immer noch wunderschön, atmet tief durch — für sie ist die Einstudierung des Bausch-Werks ihre erste Arbeit mit dem Wuppertaler Tanztheater seit langem. Eigentlich hatte sie sich schon auf die Rente eingestellt. Aber als einziges Mitglied der Originalbesetzung von 1979 ließ sie sich nicht lange bitten.

Einer Uraufführung komme diese neue Einstudierung gleich, befand Geschäftsführer Dirk Hesse bei der Vorstellung des Spielplans. Was ist es, dass „Arien“ so aufwendig macht — abgesehen von der Technik für das Wasser? Endicott: „Es liegt daran, dass die Tänzer auf der Bühne sich selbst spielen müssen. Und sich selbst zu spielen, ist das Schwerste.“

Jo Ann Endicott, bis 1987 prägte die Solotänzerin alle Bausch-Stücke

Da sei gleich zu Beginn die Garderoben-Szene. Die Tänzer sitzen auf der Bühne, als säßen sie in ihrer Garderobe und müssen sich so ungezwungen wie möglich verhalten. Dass sich die 22 Tänzer über zwei Stunden lang pausenlos in knöcheltiefem Wasser mit triefenden, am Körper kleben Kleidern bewegen, findet sie zwar „wahnsinnig anstrengend“. Und sie hadert auch mit der Wasser-Temperatur. Aber: „Es ist eine revolutionäre Idee — und das 1979. Wir waren damals begeistert davon, im Wasser zu tanzen.“ Das Motiv sollte in späteren Werken immer wieder vorkommen.

Pina Bausch formulierte ihren Ansatz zu „Arien“ einmal so: „Alles zeigen, was Menschen miteinander machen oder gemacht haben, zu verschiedenen Zeiten.“ Er steht für so viele ihrer Arbeiten, aber hier hat sie ihn besonders komplex und konzentriert umgesetzt. Atmosphärisch dichte Bilder fließen ineinander, genauso Zeit- und Bewusstseinsebenen: Theater im Theater, Wettbewerbe, Kinderspiele, Filmwelt — letztlich alles aus dem Ruder laufende gesellschaftliche Rituale.

Was heute Kult ist, irritierte bei der Uraufführung Ende Mai 1979 Publikum und Presse — im Jahr sechs nach Pina Bauschs Übernahme der Wuppertaler Tanzsparte. Eine Zuschauerin rief den durch das Wasser schlingernden Tänzern zu: „Schwimmen!“ Und der Autor der Wochenzeitung „Die Zeit“ glaubte, in dem Stück Bauschs „Ekel vor dem Theater“ zu erkennen. Und ihre Trauer über „den Verlust dieses Theaters“ und der Möglichkeit, „sich mit Kunst zu trösten“.

Er lag falsch. Denn bei der Wuppertaler Welt-Ikone geht es immer um die Unfähigkeit der Menschen, zueinander zu finden. Die Traurigkeit in „Arien“, die italienische Belcanto-Arien verstärken, hat aber auch mit Bauschs damaliger persönlicher Situation zu tun. Ihr Partner und kongenialer Bühnenbildner, Rolf Borzik, war schwer erkrankt und starb 1980. Das Ensemble wusste nicht um die Ernsthaftigkeit seiner Krankheit, Pina Bausch sprach nicht darüber.

Erkennungsmerkmal des Stückes ist das täuschend echt aussehende Nilpferd, in das sich Endicott in ihrer Rolle verliebt. „Rolf und Pina hatten zusammen die Idee. Es war von Anfang an klar, dass es ein Stück mit Nilpferd werden würde. Sie waren genial.“

Für die Neueinstudierung musste das mittlerweile dritte Tier gebaut werden. Die Haut wurde zu hart. Darin hocken zwei Statisten, die sich mit zwei anderen während der Vorstellung abwechseln. Sie bewegen das fast 80 Kilo schwere tapsige Wesen. Und wenn es im hinteren Teil der Bühne, wo das Wasser tiefer wird, mit Endicott beziehungsweise jetzt Breanna O’Mara schwimmt, dringt Wasser ein und es wird noch schwerer.

Adolphe Binder ist mehr als glücklich mit dieser ersten Premiere — und war auch nicht ganz unbeteiligt an der Wahl. „’Arien’ gleich als erste Wiederaufnahme zu Beginn meiner Intendanz ist großartig“, freut sich die neue Tanztheater-Chefin, „auch weil es 17 Jahre nicht gespielt wurde und weil es ganz und gar in mein Konzept passt. Es war eine sehr genau abgestimmte Entscheidung unter Berücksichtigung unserer Zukunftspläne — auch, was die Besetzung angeht.“ Breanna O’Mara wird es freuen.

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